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Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst
Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst
„Ich kann es wohl begreifen, dass man so furchtbare Texte komponiert, wenn man keine Kinder hat, oder wenn man Kinder verloren hat. Ich kann es aber nicht verstehen, dass man den Tod von Kindern besingen kann, wenn man sie eine halbe Stunde vorher, heiter und gesund, geherzt und geküsst hat! Ich habe damals sofort gesagt: Um Gottes willen, Du malst den Teufel an die Wand!“
Alma Mahler
Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst
Diese Aussage nährt aufs Schrecklichste unsere Gier, als Musikpublikum notorisch eine Verschränkung von Leben und Werk zu suchen (notfalls auch zu erfinden), um uns Bezug zu großer Musik zu verschaffen. Wir sind süchtig nach Geschichten und lieben es, wenn sich die Schablone „Leben“ deckungsgleich auf die Schablone „Werk“ schieben lässt.
Vorab zu den Spekulationen, die sich um die Komposition der „Kindertotenlieder“ ranken, eines Orchesterlieder-Zyklus von Gustav Mahler auf Texte von Friedrich Rückert: Von Mahlers elf Geschwistern starben sechs im Kindesalter, was er tatsächlich „verarbeitet“ haben könnte. Wir wissen es nicht. Sicher ist, dass das, was Gustav Mahlers Frau Alma 1904 äußert, 1907 bittere Wahrheit werden sollte, als die gemeinsame Tochter Maria-Anna an Scharlach stirbt. Sechs Jahre zuvor hatte Mahler die ersten drei Lieder des 5-teiligen Zyklus komponiert, 1904 die letzten beiden. Er ging dabei nicht chronologisch vor, das erste Paket enthält die Lieder 1, 3 und 5, das zweite 2 und 4.
Gustav Mahlers Kindertotenlieder
1. Nun will die Sonn so hell aufgehn
2. Nun seh ich wohl, warum so dunkle Flammen
3. Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein
4. Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen
5. In diesem Wetter, in diesem Braus
Die Lyrik von Friedrich Rückert, selbst bitter getroffen durch den Verlust zweier Kinder, fasziniert Mahler schon seit der Jahrhundertwende; aus dessen über vierhundert Kindertotengedichten wählt er fünf für seinen Zyklus aus. Verwunderlich, dass der „letzte Lied-Komponist“, – der das Lied in der Gattung „Orchesterlied“ nicht nur mit der sinfonischen Form kreuzt, sondern diese Kreuzung zugleich bis an den Rand ihrer Möglichkeiten treibt –, dass eben dieser Mahler lediglich drei Textquellen zulässt. So vertonte er eigene Zeilen in den „Liedern eines fahrenden Gesellen“, komponierte Verse aus der Textsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Clemens Brentano und Achim von Arnim, entstanden 1805 bis 1808, und schließlich entlieh er Friedrich Rückerts Feder die „Rückert-Lieder“, die „Kindertotenlieder“ und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Rückert, zu Lebzeiten alles andere als begeistert von solchen unfreiwilligen Leihgaben, kann sich nicht mehr wehren. Er ist tot. Seine Texte wurden vertont.
Und wie sie das wurden! Diese Musik ist die pure Ambivalenz, düstere Harmonien werden wie ein Röntgenbild mit hellen Orchesterregistern durchstrahlt. Celesta, mittlere Holzregister und die Episoden des Glockenspiels maximieren das Leid, den Schmerz und die Lebensentsagung durch die bittersüße Silbrigkeit des Klangs. Das Pechschwarze dominiert, aber die gellenden Stellen dazwischen konturieren die Trauer. An eine Balance ist nicht zu denken, die überbordende Expressivität begehrt unkontrolliert auf, ehe sie der Zurückhaltung weicht, maximale Besetzung im Wechsel mit Kammermusik. Solche Widersprüche sind das Zentrum der Kindertotenlieder, dadurch wird nichts verklärt, aber ebenso wenig der Verlust akzeptiert. Er wird spürbar, manchmal erahnbar.
Aus der Leere von 1. Nun will die Sonn so hell aufgehn gestikuliert sich ein Sog aus purem Wahn, initiiert durch Harfenbrechungen, die einen schwülstig-spätromantischen Orchesterexzess heraufbeschwören, der auf einmal stockt, beinahe schlagartig abreißt, ehe Richard Wagner gehuldigt wird. 2. Nun seh ich wohl, warum so dunkle Flammen bedient sich der Instrumentation, die Wagner Jahrzehnte zuvor für den Liebestod Isoldes wählte. Streicher erzeugen eine fiebrige Hitze, von der sich die Stimme treiben lässt, einen verzögerten Auftrieb nutzt, um mit den Harfen die Harmonie zum Höhepunkt zu entlassen. In 3. Wenn dein Mütterlein erinnert Mahler an stereotype Auszählreime, wie wir sie aus Kinderliedern kennen. Welch eine klagende Beschwörung! Die Singstimme kann durch die Anlage des Liedes dem Orchester nicht beikommen, die Melodie wird für beide gedoppelt, aber in der Rhythmik halbiert. Das Hin- und Hergeschaukel erreicht in 4. Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen das Maximum, schlagartige Tonartwechsel verhindern von vorneherein jedwede Gewöhnung. Taktwechsel mit großzügigen Pausen lassen Zeit für Seufzer und sogar Intimität durch einen Blick in die Innerlichkeit, obwohl sprichwörtlich nichts gesagt oder gesungen wird. Und dann kommt er doch! Der für Gustav Mahler so typische Marsch, der durch Tremolo irritiert und sich ein letztes Mal aufbäumen kann, ehe die ewige Ruhe des eigenen Kindes besungen wird. 5. In diesem Wetter, in diesem Braus ist brutal. So brutal, dass man sich fragt, ob man es noch schön finden darf.
Diskografievergleich der Kindertotenlieder
Die „Kindertotenlieder“ gehören zum Standardrepertoire, sie sind eines jener Konzerthaus-Schlachtrösser, die sehr häufig auf den Spielplänen zu finden sind, von denen das Publikum aber nie zu viel bekommen kann. Ebenso ausdekliniert präsentiert sich die Diskografie. Erhältlich sind derzeit über 25 (in Worten, ja: fünfundzwanzig) Einspielungen dieses Orchesterliederzyklus. Und dennoch ist kein Ende absehbar, denn unser Hörtest behauptet, dass die eine, die Referenzaufnahme, noch fehlt. Auch, wenn sich manche sehr nahe an dieses Level hinaufgeschwungen haben.
Ventilatorscheppern & Aquaplaning
Dazu aber später. Fragen sollte man sich, in welcher Stimmung sich Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker befunden haben, als sie die Kindertotenlieder einspielten? Es muss im Winter gewesen sein! Denn Karajan kreiert Saunaatmosphäre mit überladenstem Klang, der sich aber nicht etwa entwickelt, sondern schlagartig und nachhaltig die arme Christa Ludwig verschmoren lassen will. Das, was in diesem Bratschlauch maximal ein wenig Abkühlung verspricht, ist penetrantestes Flötenvibrato, das an einen überdrehten Ventilator erinnert, an dem ein kleines Fähnchen hin- und herpeitscht und durch die Orchesterschwüle scheppert. Aber auch die umgekehrte Rollenverteilung schützt vor Strafe nicht: Wiener Philharmoniker und Sir Adrian Boult schaffen solide Rampen, auf denen Kirsten Flagstad nicht läuft, nicht schreitet, nein, schon gar nicht springt, sondern in stimmlichem Aquaplaning herumschliddert und nochmals nein, leider auch nicht fällt. Dann hätte man wenigstens einen einzigen Höhepunkt. Flagstad findet das selbst ganz doof, ihrer weinerlich-wimmernden Interpretation nach zu urteilen. Von ihren stechenden Höhenflügen mal zu Schweigen – was alle Beteiligten bei dieser Einspielung tatsächlich in Erwägung hätten ziehen sollen.
Mahler-Acker & andere Wutausbrüche
Die nächsten fünf Aufnahmen sind erträglich, wenn auch nicht ratsam. Kathleen Ferrier singt vom Text pikiert und zeitgleich bedeutungsschwanger mit Nachdruck – mit quetschendem Nachdruck. Bruno Walter und den Wiener Philharmonikern gelingen da nur wenige Momente, in denen kammermusikalische Phrasen atmen können, bevor beherzt und garstig „dazwischengesungen“ wird. Singen kann dagegen Thomas Laske ganz herrlich, lodernd, fabelhaft, wäre da nicht die Klavierbegleiterin Verena Louis, die bei jedem aufkeimenden Akzent das Blumenbeet komplett zerpflügen will und mehrmals mit der Hacke zur Tat schreitet. Am Ende wird der vertikutierte Mahler-Acker besungen. Ganz arg traurig! Dietrich Fischer-Dieskau will von Trauer weniger wissen, was bei solchen Lieder – wir erinnern den Namen, KinderTOTENlieder – schon eine gewagte Interpretation ist. Er unterteilt jede Sangesphrase in die Schwerpunkte, nimmt ruckartig Platz. Dabei hätte er nur auf die Berliner Philharmoniker und Rudolf Kempe hören müssen, die es mehrmals vorführen, wie sensibel Leid klingen kann. Christa Ludwig, nicht ganz erholt vom karajanschen Bratengang, hat auch mit dem nächsten Klangkörper wieder zu kämpfen: Das Philharmonia Orchestra und André Vandernoot wollen sie aus der Bahn werfen, wo sie nur können. Sie singt darüber hinweg, wo sie ihrerseits nur kann. Janet Baker hat mehr Zeit, sich auf ihre Sangeskunst zu konzentrieren. Sie dehnt Vokale so inbrünstig aus, dass sie das Tempo verliert, sich durchschleppt und anstatt, dass John Barbirolli mit dem Hallé Orchestra dagegenhält, kommt man Baker entgegen und alles verlahmt. Dem Kaugummieffekt verfällt auch Hidenori Kamatsu, der zwar allenthalben ans Tempo erinnert wird, dann aber mit Lautstärke in Richtung Radio-Philharmonie Hannover und Cord Garben brüllt, ja lehrerhaft schreit und einen Kampf beginnt, der kein schönes Ende nimmt.
Zurückhaltung & Reflexion
Die sechs folgenden Einspielungen sind gute Durchschnittsaufnahmen, die es sich im Vergleich zu hören lohnt. Das Linos Ensemble mit Marion Eckstein beherrscht den kammermusikalischen Ton perfekt, legt Farben frei wie nur wenige Aufnahmen. Eckstein wirkt dagegen etwas blass und monoton. Bernadette Greevy und das National Symphony Orchestra of Ireland samt János Fürst leisten solide Arbeit, durchsichtig, größtenteils umsichtig. Wenn man ein erstes Gespür für die Lieder sucht, ist das die richtige Aufnahme. Genauso zurückhaltend und weniger glatt singt Katarina Karnéus. Susanna Mälkki und das Gothenburg Symphony Orchestra sind so herrlich dezent, schaffen Platz und Luft zum Wähnen von Karnéus, die Einzelmomente stemmt, die betörend sind. Genauso sehr fühlt Anne Sofie von Otter, was sie tut: lange, teils überdehnte Phrasen mit einem sensiblen Gespür für große Intervallsprünge, auch wenn von Otter am Anfang jeder Linie löchrig artikuliert. Pierre Boulez kann diese Momente abfangen, mit Schwebendem untermalen, nur leider wird letztendlich mit den teils zu lauten Wiener Philharmonikern zu viel verdeckt. Auch die Berliner Philharmoniker reizt unter Claudio Abbado die Lautstärke zu sehr, mit maximalem Pathos wünscht man mehr Ecken, mindestens aber Kanten im nahtlosen Stöckchenlauf der Registergruppen. Marjana Lipovsek vermischt ihren Gesang mit Luft, wohl dosiert, bescheiden, und klingt nobel ohne der Arroganz zu verfallen. Die Livekonservierung von Christian Gerhaher und dem Orchestre symphonique de Montréal unter Kent Nagano ist wirklich hörbar wegen Gerhaher, der singt, als erzähle er eine Geschichte. Dadurch entsteht Distanz, die zwischen den Noten Neues eröffnet. Eine Einspielung zum Nachdenken!
Fiebrig & verschmolzen
Bevor der annähernden Superlative gehuldigt werden darf, ein Blick auf sechs Einspielungen, die im Mahler-Plattenschrank nicht fehlen sollten. Marylin Horne und das Royal Philharmonic Orchestra klingen faszinierend eigen, ihr Sinn für Sprache vernebelt die Sinne, und Henry Lewis verzögert für manchen Geschmack zu sehr, für manchen ist es der Nachhall auf das Stimmvolumen. Solitär! Gerhild Romberger und der Pianist Alfredo Perl machen alles durchsichtig, jeder Harmoniewechsel wird ausdefiniert, Romberger schmachtet dazwischen, spart Kräfte und explodiert da, wo es angemessen ist. Die goldenen Zeiten von Thomas Hampson sind vorbei, aber mit den Wiener Philharmonikern und Leonard Bernstein kann man ihnen noch einmal lauschen. Bernstein macht sich als Mahlerexperte hier wieder einmal einen Namen, behält das große Ganze unter Kontrolle und arbeitet doch so detailverliebt mit minimalem und kalkuliertem Imperfektionismus. Hampson weiß das zu nutzen, lässt sich vom Orchester umschlingen und tragen. Und endlich hat sich Christa Ludwig von der Bratenaffäre erholt, Karl Böhm und die Staatskapelle Dresden lassen auch das Geknister der Aufnahme vergessen, so butterweich, so bedingungslos musikalisch ist gearbeitet worden, dass es nicht nach Arbeit klingt. Brigitte Fassbaender ist für die Kindertotenlieder wirklich die ideale Besetzung! Mit maximalem Schmelz, mit maximalem Sprachgefühl und maximalem Volumen bei den Phrasenabgängen wünscht man sich nur ein besseres Orchester, Klaus Tennstedt und das NDR Sinfonieorchester hätten mehr sinfonisches Gegengewicht stellen müssen. Eine der neuesten Aufnahmen hat Bernarda Fink mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich vorgelegt. Andrés Orozco-Estrada gewinnt vor allem in den aufbrausenden Stellen durch knackende Einsätze, zu denen sich Fink fiebrig gesellt.
Drei Damen nehmen in unserem Ranking den Spitzenplatz ein, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Waltraud Meier und Daniel Barenboim zeigen mit dem Orchestre de Paris, wie nah Mahler bei Richard Wagner war, die erlösenden Höhepunkte werden bis ins Äußerste vorbereitet, Barenboim verzögert, springt kurz vor, und wieder schneller! Wenn Meier dann endlich losschnellt, die Harmonien auflöst, will man zergehen. Chapeau!
Fast selbst kindlich klingt Anne Schwanewilms, ihre Stimme ist auf das kleinste Volumen kondensiert, und mehr Energie ist kaum möglich. Der Klavierpart wird von Malcolm Martineau durchsichtig, aber nicht weniger labend-charakterstark gemeistert. Da braucht es wirklich kein Orchester!
Und zum Glück bringt Riccardo Chailly endlich Brigitte Fassbaender zum vollendeten Strahlen – wer so viel Farbe durch Sprache in Gesang übersetzen kann, ist reich beschenkt. Das Radio Sinfonie Orchester Berlin nimmt Mahler schlank und feinsinnig. So wird Platz für Fassbaender, die sich in die Phrasen schmeißt, als gäbe es kein Morgen mehr.
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