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Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst

Von Ricarda Natalie Baldauf, 17.04.2017

Aus eins mach zwei

Eine musikgeschichtliche Flaschenpost: Gleich zwei Mal hat Alban Berg „Schließe mir die Augen beide“ von Theodor Storm in Töne gesetzt. Version eins in zuckersüßer Spätromantik-Manier, das zweite Mal als atonale Zwölfton-Komposition. Doch wie konnte Berg so völlig gegensätzliche Werke aus ein und derselben Vorlage kreieren?

„Wie der letzte Schlag sich reget, Füllest du mein ganzes Herz.“

Thedor Storm

Mit gleich zwei Präsenten huldigt Alban Berg 1926 dem Verlag Universal Edition und seinem Gründer zum 25-jährigen Jubiläum: „Gleichbedeutend mit dem ungeheuren Weg, den die Musik von der tonalen Komposition zu der ‘mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen‘ , zurückgelegt hat und den als einziger Verleger von Anfang an gegangen zu sein das unvergängliche Verdienst Emil Hertzkas ist. Ihm sind die umstehenden Zwei Lieder über den gleichen Text von Theodor Storm zugeeignet.“ Kurz vorher hatte Berg „Schließe mit die Augen beide“ ein zweites Mal vertont. Doch um den Entstehungszeitpunkt der ersten Version zankt sich die Wissenschaft: Die einen sind überzeugt, dass sie 1900 vom gerade einmal 15-jährigen Berg komponiert wurde, die anderen verorten sie im Jahr 1907, inmitten von Bergs Studien bei Arnold Schönberg. Sicher ist, dass dieses Lied noch mit beiden Füßen in der Spätromantik steht: Da tröpfeln zart die Klavier-Harmonien zum Gesäusel des Soprans, bis man sich suhlt in Geborgenheit.



Schließe mir die Augen beide
Mit den lieben Händen zu!
Geht doch alles, was ich leide,
Unter deiner Hand zur Ruh.

Und wie leise sich der Schmerz
Well’ um Welle schlafen leget,
Wie der letzte Schlag sich reget,
Füllest du mein ganzes Herz.

Theodor Storm (1851)



Die Wattebausch-Klänge wie weggepustet, komponiert Berg 1925 ein völlig anderes Stück. Der Sopran springt aus dem tiefen Register in schwindelerregende Höhen, um immer wieder aufs Neue hinabzustürzen. Dazu stockt das Klavier und schreitet dann in unregelmäßiger Rhythmik weiter. Berg entreißt der Textvorlage den schönen Schein. Was war in der Zwischenzeit passiert?

„Watschenkonzert“ — Karikatur in „Die Zeit“ vom 6. April 1913

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wollen es die Komponisten ganz genau wissen: Eifrig reizen sie die Grenzen der Tonalität bis zum Äußersten aus. Und Arnold Schönberg sprengt sie. 1907 ruft er die Tonalitätsbefreiung aus, „alle Schranken einer vergangenen Ästhetik“ seien durchbrochen. Kein Bezug mehr auf den einen Grundton, alle Töne gleichberechtigt — die freie Atonalität war geboren. Zum Leidwesen des Publikums. Beim sogenannten ’Watschenkonzert‘ 1913 in Wien werden im allgemeinen Tumult zwischen Anhängern und Gegnern Ohrfeigen ausgeteilt, die Zuhörer sind entsetzt über Kompositionen aus dem Kreis der Zweiten Wiener Schule 187 , wie Anton von Weberns „Sechs Stücke für Orchester“, Schönbergs „Kammersinfonie“ oder Bergs „Zwei Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg“. Zur Aufführung von Mahlers „Kindertotenliedern“ kommt es gar nicht mehr, das Konzert wird vorher abgebrochen. Aber auch andere Komponisten, beispielsweise Igor Strawinski, finden eine radikal neuartige Tonsprache. Im selben Jahr wird seine Ballettmusik „Le sacre du printemps“ in Paris uraufgeführt. Und auch er muss sich einem Sturm aus Protest und Spott des Publikums stellen.

  1. Gehört ein Komponist zu einer der beiden Wiener Schulen, ist das ein Gütesiegel sondergleichen. In der ersten Wiener Schule bereiteten Haydn und Mozart der Wiener Klassik den Weg. Später dann schufen die Komponisten um Arnold Schönberg hier die Grundlagen der Zwölftonmusik. So viel musikalischer Fortschritt in einer Stadt ist einmalig! (MH)

Für Schönberg führt dieser Weg bald in eine Sackgasse, die „extreme Emotionalität“ atonaler Komposition erschöpft ihn. Und so macht er sich auf die Suche nach etwas weniger Zerrissenem, einer geordneteren Arbeitsmethode. 1923 lädt er Wiener Schüler und Freunde — darunter wohl auch Alban Berg — in sein Haus in Mödling ein, um, nach einer längeren Phase der künstlerischen Verwirrung, seinen neusten Clou zu präsentieren: Die Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen.

Die Zwölftontechnik: der musikalische Gral des 20. Jahrhunderts

Das ist nichts Neues: Auf dem Weg von einem C zum nächsten drückt man auf dem Klavier zwölf Tasten. Diese aufeinander folgenden Halbtonschritte bilden die sogenannte chromatische Tonleiter. Schon im 19. Jahrhundert haben Franz Liszt, Richard Strauss und andere Komponisten die besondere Wirkung der Chromatik für ihre Musik genutzt. Also her mit der Revolution: Eine bestimmte Anordnung der zwölf Töne wird in der Zwölftonmusik Reihe genannt. Diese Reihe kann man sich weniger als ein musikalisches Thema, sondern vielmehr als eine Art Tonfundus vorstellen, mit dem die Komponisten ihre Stücke ausstatten. Erst wenn jeder Ton einmal erklungen ist, darf wiederholt werden. Arnold Schönberg fügte dem außerdem ein paar Regeln der barocken Kontrapunkttechnik hinzu: Beim Krebs zum Beispiel wird die Reihe, angefangen mit dem letzten Ton, rückwärts gespielt und die Umkehrung stellt sie auf den Kopf. Ganze 479.001.600 Variations-Möglichkeiten stehen den Komponisten so zur Verfügung.

Erinnertes & Gegenwärtiges

Hat sich die Zwölfton-Komposition von „Schließe mir die Augen beide“ einmal in das innere Ohr eingenistet, hört sich auch das romantisch Verklärte ganz anders. Wenn man die rosarote Brille absetzt, gibt es kein Zurück mehr.
Zwar versucht sich Alban Berg, seinem zutiefst verehrten Lehrer Schönberg nacheifernd, das erste Mal an der neuen Kompositionstechnik, doch macht er sie sich in einer unübertroffenen Weise zu eigen: In diesem Stückchen Musik können wir auch die Spuren eines Läuterungsprozesses erkennen, einer Entfremdung über ein Vierteljahrhundert hinweg. Denn durch all die streng gesetzten Töne huscht dann und wann eine harmonische Klangfärbung, eine schwache Erinnerung an das, was einmal gewesen ist. Und so scheinen Vergangenheit und Gegenwart, zumindest für eineinhalb Minuten, in parallelen Bahnen zu laufen.


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