#kunstlied

Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst

Von Konrad Bott, 06.03.2017

Stunde der Wahrheit

Im Vorfeld des Festivals „Heidelberger Frühling“ findet der Wettbewerb „Das Lied“ dieses Jahr erstmals dort statt – eine Reportage aus der Neckarmetropole.

Wann warst du zuletzt bei einem Liederabend?

In Süddeutschland ist praktisch alles „Lied“: ein Satz aus einer Sinfonie, ein einminütiger Grindcore-Song, der neueste Hit im Radio. Der Sprachgebrauch trägt die Konturen eines Wortes ab und nivelliert Bedeutungsunterschiede, das ist normal. Dass mit einem „Lied“ über die letzten Jahrhunderte hinweg immer eine bestimmte musikalische Gattung gemeint war, ist weitestgehend vergessen. Es sei denn, man sagt „Kunstlied“ – dann klingelt es bei den meisten. Das liegt aber auch daran, dass das Lied nicht unbedingt die prominenteste Gattung im klassischen Konzertbetrieb ist. Oder wann warst du zuletzt bei einem Liederabend? Falls das schon lange her ist oder noch nie der Fall war, schäm dich! In Heidelberg hat Thomas Quasthoff letztes Jahr die „Internationale Liedakademie“ ins Leben gerufen. Im Vorfeld des Heidelberger Frühlings hat diese Akademie unter anderem den Wettbewerb „Das Lied“ von Berlin nach Baden-Württemberg gebracht (Import-Export, man kennt das ...). Stimmt, die Zusammenhänge sind etwas kompliziert. Der Wettbewerb selbst nicht: vier Tage, 26 Duos, eine namhafte Jury und jede Menge umwerfende Musik.

Samuel Hasselhorn und Renate Rohlfing - 1. Preis

Samuel Hasselhorns Puls ist noch auf 120, als ich mich ihm gegenüber setze. Kein Wunder, wer gerade Franz Schuberts „Erlkönig“ vorgetragen hat, der muss erstmal wieder klarkommen. Neben ihm sitzt seine Begleiterin, Renate Rohlfing, die – anders als ihr Name vermuten lässt – kein Deutsch spricht und trotz unser beider Bemühungen nicht so richtig am Gespräch teilnimmt. Das tut mir ein bisschen leid, weil der Pianist bei einem Lied-Duo mindestens genau so viel zu sagen hat wie der Sänger. Die beiden haben ihre Performance wirklich mit Bravour gemeistert, sich so ins Finale durchgekämpft und letztendlich sogar den 1. Preis abgeräumt.

„Wir sind unser Instrument. Und wir müssen ein Leben lang an uns bauen!“

Charlotte Lehmann

„Violinsonaten, Streichquartette, Trios. Das zieht alles. Aber ein Liederabend? Ne“, sagt Hasselhorn, „und das ist schade, weil man im Grunde zwei wundervolle Künste, Poesie und Musik, verbindet und so eine dritte schafft.“ Ich frage, ob er sich vorstellen könne, weshalb das Lied bei den Leuten nicht so ankommt. „Ich denke, viele halten Lieder nicht für aktuell, weil sie sich die Texte nicht genau ansehen. Renate und ich haben eine Konzertreihe gemacht, in der wir thematisch auf das Thema Krieg bzw. Flucht eingegangen sind – mal plakativer, mal subtiler. Ich bin überzeugt, dass es die Leute zum nachdenken bringt.“ Seit Sommer 2014 touren die beiden immer wieder mal in Amerika, Renates Heimat, und Deutschland. „Dabei moderiere ich die einzelnen Lieder oft an. Ich habe das Gefühl, das hilft den Leuten sehr, sich auf die Musik einzulassen. Natürlich darfst du sie dabei nicht für dumm verkaufen.“ Vor welchem Jurymitglied er am meisten angstvollen Respekt habe, möchte ich wissen. „Charlotte Lehmann. Ich habe einige Freunde, die bei ihr studieren, und habe auch schon vor ihr und anderen gesungen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie meine Stimme sonderlich schätzt.“

Jurorin Charlotte Lehmann im Interview

„Eine ganze Welt auf einer einzigen Seite!“

Richard Stokes

Im Vergleich zu anderen Wettbewerben gestaltet sich „Das Lied“ sogar ziemlich entspannt und wenig ermüdend, was sicherlich auch an der Kürze der jeweils dargebotenen Werke liegt. Ausschließlich Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann und Wolfgang Rihm sind dieses Jahr gefragt. In den Runden, in denen Schüler von Jurymitgliedern singen, darf der jeweilige Juror nicht abstimmen. Wer rausfliegt, kann sich am nächsten Tag das Feedback von der Jury holen. Es wäre völlig gerechtfertigt, über jedes Duo zu referieren, weil man als Zuhörer wirklich mit dem Kopf auf die Mühe gestoßen wird, die sich hier jeder gegeben hat. Das funktioniert bei der Liedgestaltung vielleicht mehr als bei jeder anderen musikalischen Ausdrucksmöglichkeit, weil sie – oh überreiztes Wort! – so intim ist. Let the music do the talking ...



To hell and back again ...

Vieles, was in der Liedgestaltung passiert, scheint auf den ersten Blick unkomplizierter als es ist. Viele Lieder nehmen gedruckt nicht mal mehr als zwei Seiten ein. Ein Großteil dieser Stücke sieht auch, was die Anzahl der Noten und deren Werte angeht, ziemlich easy-peasy aus. Aber dann sind da Bögen, Punkte, Haken, Keile, Pausen – sie infiltrieren den Raum, um, zwischen, über und unter den Noten. Anweisungen zur Gestaltung, die je nach Komponist mehr oder weniger genau gemeint sind und manchmal sogar im Gegensatz zueinander zu stehen scheinen. Sie schicken die beiden Musiker oft in nur einem Takt „to hell and back again“, wie Vietnam-Veteranen sagen würden. Es kann zum Beispiel sein, dass der Text „Liebe und Blumen“ sagt, die gestalterischen Anweisungen für den Sänger aber „Tod und Verderben“. Und dem Pianisten geht es mit dem Notentext vielleicht genau anders herum. Und dann ist da noch dieses Geschwindigkeits-Paradoxon: Während man als Laie ja meist virtuose, schnelle Passagen als schwierig empfindet, sind oft langsame Stücke viel gefährlicher. Rutschen beispielsweise die Schläge pro Minute deutlich unter 60 (z.B. beim „Doppelgänger“ von Schubert) ist es eine absolute Zitterpartie, den Grundschlag zu halten, weil er unterhalb des Ruhepulses liegt.

Juror Richard Stokes im Interview

Es ist schön zu sehen, wie unterschiedlich sich die Sänger mit ihren Stücken profilieren. Leider haben viele der Wettbewerber irgendwie eine matte Stückauswahl getroffen oder trauen sich, wie Richard Stokes sagt, einfach zu wenig in der Gestaltung. In der ersten Runde kann man also noch relativ gut an qualitativen Kriterien ausmachen, wer drin bleiben darf und wer geht. Schon im Halbfinale ist damit aber für einen Nicht-Sänger ganz schnell Schluss. Die sensiblen, feingezeichneten Darbietungen Harriet Burns, die dämonischen Gänsehaut-Attacken Andre Baleiros, die beeindruckende Phrasenspinnerei Modestas Sedlevičius oder die schlanke Vokalklinge Jóhan Kristinssons – jeder hat was zu bieten und kann nur hoffen, dass es der Jury gefällt.

Die Entscheidung der Jury lautete dann:
1. Preis - Samuel Hasselhorn (Bariton)
2. Preis - Clara Osowski (Mezzo)
3. Preis - Jóhan Kristinsson (Bariton)
Preis für die besten Pianisten - Victoria Guerrero & Anna Anstedt
Förderpreis - Andre Baleiro (Bariton)

Ganz gleich, was man von diesem Urteil halten mag, manchmal hätte man gewisse Duos gerne auseinander gepflückt und neu zusammengesetzt. Zeit für eine steile These: Hätte Andre Baleiro beispielsweise Victoria Guerrero als Begleiterin gehabt, hätte er gute Chancen auf den ersten Platz gehabt. Eigentlich schade, dass „Das Lied“ nicht als Duo-Wettbewerb beworben wird und somit der Fokus auf Pianisten und Sängern gleichermaßen liegt. Denn, auch wenn viele da anders drüber denken: Das Lied steht und fällt mit demjenigen, der an den Tasten sitzt.

© Martin Walz


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