#kunstlied

Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst

Von Hannah Schmidt, 29.03.2017

Wahnsinn in den Augen

Diese Aufnahme des „Erlkönig“ von dem jungen Dietrich Fischer-Dieskau zieht einem die Schuhe aus. Es ist, als sähe man ein ganzes Drama mit allen Darstellern und Kulisse – dabei ist er ganz allein.

Alles in Schwarz-weiß! Als Dietrich Fischer-Dieskau zusammen mit seinem Pianisten Gerald Moore diesen „Erlkönig“ von Franz Schubert fürs frühe Fernsehen aufnahm, im mit opulenten Vorhängen dekorierten Konzertsaal und ohne Publikum, wird er so um die dreißig gewesen sein. Seine Haare sind dicht und schwarz und glatt nach hinten gegelt, er hat ein volles, rundes Gesicht, trägt schwarzes Jackett und weiße Fliege. Im Vergleich mit dem Bild des älteren, schmalgesichtigen, weißhaarigen Fischer-Dieskau der 2000er-Jahre ist allein das schon eine Sehenswürdigkeit – doch vor allem ist diese Interpretation, bei der man volle vier Minuten lang Fischer-Dieskau und sonst nichts anderes sieht, eine Einzigartigkeit. Diese Aufnahme zieht einem die Schuhe aus.



Er bewegt sich keinen Millimeter. Näher kann man Fischer-Dieskau nicht kommen.

Zu Beginn ein Close-Up der Hände von Gerald Moore, der das herrische, hektische Pferdefußtrappeln und Windsausen der ersten Takte spielt, die Bildqualität ist mäßig, die Bewegung verschwimmt vor der Linse. Sekunden vor Fischer-Dieskaus Einsatz dann ein Schnitt, man sieht den Sänger aus der Nähe, sehr direkt von vorne gefilmt. Sein Blick ist konzentriert nach vorn gerichtet, er bewegt sich keinen Millimeter, wie eine Statue, sein ruhiges Atmen vor dem Einsatz ist nur erahnbar. Näher kann man dem Sänger nicht kommen.

Er sieht aus, als würde er die Szenerie, die er im Folgenden beschreiben wird, nornenhaft, schicksalsbewusst, ganz genau vor seinem inneren Auge sehen, als würde er sie beobachten, ohnmächtig aus der Ferne und so nah dran, dass er doch jede einzelne Gemütsregung nachvollziehen kann. „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?“ beginnt sein Text, Fischer-Dieskau singt die Zeilen mit Druck, mit Volumen, Forte, mit einer unglaublichen Präsenz. Er ist der Geschichtenerzähler, der griechische Dramenchor, der mahnende Weise, der in diesen ersten Zeilen schon über das ganze Unheil Bescheid weiß.

Mit jeder Rolle verändert er sich

Es sind aber nicht allein diese ersten Momente, in denen der junge, fantasievolle Fischer-Dieskau mit seiner Art zu singen und zu erzählen den Zuhörer ergreift, und das ganz ohne Bühnenbild, Kostüme und Lichteffekte. Es ist vor allem die Art, wie er später die drei verschiedenen Figuren – den Vater, den Sohn und den Erlkönig – scheinbar in seine physische Hülle hineintauchen lässt, so dass sie in ihm und durch ihn singen und sprechen. Mit jedem Rollenwechsel verändert sich seine Haltung, seine Stimme und: sein Blick.

Schaudern beim „Erlkönig“-Einsatz. Doch das, was am Ende des kurzen Videos kommt, haut um.

Es ist der Wahnsinn in seinen Augen, der den Zuschauer beim Einsatz des „Erlkönigs“ schaudern lässt. Es ist die Angst im Blick des Jungen, die vergessen lässt zu atmen. Vielleicht liegt es aber auch ein bisschen mit daran, dass Liederabend-Besucher selten den Sänger so aus der Nähe sehen, wie man Fischer-Dieskau in diesem Video nahe kommt. Nichts desto trotz: Es ist, als sähe man in diesem Video ein ganzes Drama mit all seinen Protagonisten und all seiner Kulisse. Und dabei steht nur ein einziger Mann vor der Kamera.

Als er seinem Klavierpartner am Ende die Hand schüttelt und beide sich verbeugen, hört man kein Klatschen, sondern nur das Rauschen der Aufnahmegeräte. Das tut gut. Aber dann sagt der junge unverblümte Dietrich Fischer-Dieskau mit einem zu erahnenden Lächeln leise: „Guten Abend.“ Und dieser Moment zieht einem die Socken aus.


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