#kunstlied

Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst

Von Robert Colonius, 05.04.2017

Auf Flügeln das Händchen

Fetisch? Gehabe? Lebensrettend? Was hat es mit der Geste des Handauflegens eines Sängers auf dem Flügel während eines Liederabends auf sich?

Die menschliche Stimme, so behaupten Sänger, sei das reinste, natürlichste und schönste Musikinstrument. Kein Holz, kein Metall, keine Saiten, auf die man sich verlassen müsste, nur die eigene Lunge und die Stimmbänder. Als Sänger trägt man dieses Instrument permanent mit sich und vergisst bisweilen, es abzustellen, was sich besonders in den Korridoren einer Musikhochschule, den halligen Toilettenräumen und generell in jedem Gespräch mit ihnen bemerkbar macht.
Ganz unabhängig ist das Sängerleben nun aber doch nicht. Zu einem Liederabend gehört auch ein Flügel, samt Begleiter (dem „Klavierdackel“). Im Gegensatz zu Pianisten müssen sich Sänger allerdings nie mit Fingerübungen herumplagen. Stattdessen sieht man sie beim Vortrag häufig eine Hand (oder sogar beide) auf und in den Flügel legen, gelegentlich auch fest klammernd. Ist das lediglich eine Marotte oder steckt mehr dahinter?
Tatsächlich leistet eine Sängerhand ganz Erstaunliches. Nach dem wohlverdienten Feierabend, der früh im Wirtshaus begann und erst am stürmischen Morgen endete, kann sich der leicht wankende Orpheus während eines Liederabends mit ihrer Hilfe am Flügel festhalten, bis die bösen Farben endlich verschwinden.
Dies ist aber bei weitem nicht der einzige Grund, warum Sänger des Öfteren die Nähe des Flügels suchen. Im Inneren befindet sich ein Fach für Wertsachen. Portemonnaie, Schlüssel oder auch Glücksbringer können dort verstaut werden. Indem er in den Flügel hineintastet, vergewissert sich der Sänger immer wieder über den Fortbestand seines Hab und Guts, da Pianisten bekanntlich lange Finger haben.
Nur wenige wissen, dass im Flügel außerdem ein Lautstärkeregler installiert ist. Wenn der pianistische Begleiter wieder einmal wie eine Krähe auf die Tastatur einhackt, hat der Sänger die Möglichkeit, diese unsensible Stümperei ganz unauffällig auf die Hälfte der Lautstärke zu reduzieren.
Nicht zuletzt ist die Berührung des Flügels ein äußerst sinnlicher, sogar heilender Akt für das Instrument. Durch die Liebkosung der wärmenden Hand wird der Ton des 500 Kg schweren Ungetüms rund und zart, auch an kalten Tagen.
Das Handauflegen hat somit seinen Sinn und Zweck. Und alle, denen dieser Anblick missfällt, können auf Folgendes hoffen: dass dabei irgendwann der Deckel herunterfällt, der Flügel wegrollt und dem ganzen pathetischen Treiben eine Ende bereitet.

© Renate Rohlfing, Samuel Hasselhorn beim Wettbewerb "Das LIED"
© Martin Walz/Heidelberger Frühling


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