#kunstlied
Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst
Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst
Wenn zwei sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander prallen, dann wird es explosiv. So auch in den Künsten: Aus ein paar Zeilen Text und einer Handvoll musikalischer Wundermittel entsteht im Kunstlied eine klingende Miniaturwelt, die den Kopf anspricht, aber auch das Herz. Doch so einfach das klingt: Dieses Aufeinandertreffen, die Basis jedes Lieds, funktioniert nach ganz eigenen Regeln – und keineswegs immer konfliktfrei. Auch weil Text und Musik eigentlich gar nicht zusammenpassen, wie Ihr in der Kolumne nachlesen könnt.
Welche der Künste das Sagen hat, die Poesie oder die Musik, ist ein Grundsatzstreit, der sich wie ein Kaugummi durch die Musikgeschichte zieht. Claudio Monteverdi, der in seinen Madrigalen als einer der ersten mit beiden Kunstformen jonglierte, meinte zwar: „Der Text soll Herrscher und nicht Diener der Musik sein“, nachfolgende Komponisten-Generationen sahen das ganz anders. Vor allem für die Romantiker war die Musik der Schlüssel zum Herzen. Musik als bloße Zutat? Auf keinen Fall!
Zeit für einen Beziehungs-Check des ungleichen Liebespaares:
Von Minnesang bis Zwölfton – die niusic-Themenreihe zur Liedkunst
„Ich war zuerst da! Deswegen bestimme ich“ (sagt der Text)
Das stimmt. Das Gegenteil, nämlich fertige Musik zu „vertexten“, galt in Klassik und Romantik eher als freakige Ausnahmeerscheinung. Und der Text ist nicht gerade monogam: Manche bekannten Liedtext-Hits von Johann Wolfgang von Goethe oder Joseph von Eichendorff wurden gleich zigfach „vertont“. Das Wort „vertont“ erinnert zwar irgendwie an „übersetzt“, aber so einfach wie von einer Sprache in eine andere ist das nicht. Weil Musik eben ihre ganz eigenen Stilmittel hat und die Komponisten diese sehr gezielt einsetzen können: Rhythmik, Melodik, Tonarten und vieles mehr. Und hier kommt auch die eigentliche Macht der Komponisten ins Spiel: Indem sie nämlich einen Text auf die eine oder andere Weise vertonen, können sie diesen deuten, (fast) wie sie wollen. Das letzte Wort hat dann nicht mehr der Text. Sondern die Musik!
Claudius: Tod und das Mädchen
„Du nimmst mir meine Freiheit“ (sagt die Musik)
Musik hat schon seit der Barockzeit ihr ganz eigenes kleines Bedeutungs-Lexikon, und die musikalischen „Figuren“ darin sind oft ganz intuitiv zu verstehen: zum Beispiel die Seufzermelodie, wichtig in jedem schmachtenden Liebes- oder Leidenslied, dem traurigen Seufzen trauriger Menschen nachgeformt. Oder Tremolo 92 für Zittern, absteigende Linien für Grab und Tod, sogar die bedeutungsvoll ausgehaltene Generalpause hat sich als eine musikalische Figur für das Schlafen, Schweigen oder Sterben etabliert. All das wäre ohne die Verbindung mit Text nicht möglich, denn erst durch Text kann man solche eigentlich sehr vagen musikalischen Ausdrucksmittel zu mehr oder weniger „eindeutigen“ Inhalten zuordnen. Und wird das nur oft genug gemacht, versteht man sie auch ohne Worte: dank des Gewöhnungs-Effekts, der Konvention.
Die reinste Zitterpartie frei von Taktschlag und Rhythmus! Streichinstrumente wiederholen unfassbar schnell einen einzigen Ton, Bläser wechseln blitzartig zwischen zwei Tönen, die nur minimal voneinander entfernt sind. Da entsteht eine irrsinnige Spannung, und wir zittern mit. (CW) ↩
Claudius & Schubert: Tod und das Mädchen
„Du drängst mir was auf“ (sagt der Text)
Doch auch der Text bekommt von der Musik etwas aufgezwungen, und zwar ihre sinnliche, umhüllende klingende Gestalt. Niemand kann sich der entziehen, denn mit ihren Schwingungen geht uns Musik durch Ohren und Haut direkt in den Körper. Dem Text stiehlt sie so nicht selten die Show. Der darf zwar Inhalt liefern, der eigentliche Star in jedem Kunstlied aber ist die Musik. Testfrage: Würdest du lieber nur den Text eines Schubert-Lieds hören oder nur die Musik? Na also. Und weil Musik auch mal alleine was Wichtiges sagen will, gibt es Vor-, Zwischen- und Nachspiele. Ganz ohne Worte und trotzdem mit ganz viel Inhalt. So verrät die Musik oft schon, was Sache ist, bevor der Sänger überhaupt den Mund aufmacht.
„Du machst mir alles nach“ (sagt der Text)
Oft sind sich Text und Musik in der Bedeutung und Bewertung eines Wortes, Satzes oder Abschnittes einig: Es ist von Pferden die Rede? Galoppierende Rhythmen! Das Wasser gurgelt im Bach? Sprudelnde Wellenmusik! Es zirpt ein Vöglein im Baum? Hoher Klaviertriller! Mithilfe solcher musikalischen Gestik kann man vieles parallelisieren, das ist der direkteste Weg der Bedeutungsverstärkung. Es geht auch subtiler, dann wird der Text als stimmungsvolles Musikdrama inszeniert, durch die Feinheiten von Tonarten, Tempo und Bewegung.
„Du widersprichst mir“ (sagt der Text)
Einig sind sich die Künste aber bei weitem nicht immer, sonst wäre das Lied ja gähnend langweilig. Zum Beispiel kann die Klavierbegleitung unheimlich sein, der Text aber fröhlich. Oder Verse über ein eigentlich düsteres Thema oder Gefühl erstrahlen unvermittelt in hellem C-Dur, das keine Vorzeichen hat und eigentlich immer an Friede, Freude, Eierkuchen erinnert. Da stimmt doch was nicht?! Dann muss der Zuhörer sein Gehirn anstrengen und seine ganz eigene Deutung aus den widersprüchlichen Signalen generieren.
Keine Angst mehr vor dem Tod?
„Du lügst! Ich sage immer die Wahrheit“ (sagt die Musik)
Merkwürdig: Zwar hat der Text eine viel klarere Bedeutung, trotzdem „glauben“ wir letztendlich der Musik. Weil die nämlich nicht lügen kann, sondern immer „authentisch“ ist. Weil sie keine fest fixierte Bedeutung hat, sondern höchstens klangmalen kann oder Ausdrucksmomente wie „traurig“ oder „fröhlich“, „langsam“ oder „beschwingt“ in sich trägt, und die sind, was sie sind, und damit niemals „falsch.“ Zu Ironie und Spott aber ist Musik komischerweise durchaus in der Lage – durch maßlose Übertreibung.
Beziehungs-Bilanz:
Wie in jeder guten Beziehung ergänzt sich im Kunstlied das Beste aus beiden Beteiligten: Das Rationale, die Geschichte, die uns der Text in knappster lyrischer Form vermittelt, und das Emotionale, Assoziative, für das die Musik hauptsächlich zuständig ist. Doch diese Grenzen verschwimmen und können sich ständig verändern. Denn auch der Text ist in seiner Strophen- und Versform klingendes Material, das mit den Emotionen direkt Kontakt aufnimmt, das seinen Inhalt schon durch Rhythmik und Reim nachbilden kann. Und die Musik andererseits kann zur bedeutsamen „Sprache“ werden, als Klangmalerin und selbstbewusste Ausdruckskünstlerin. Dies alles geschieht gleichzeitig, im Vortrag von Sänger und Pianist, in denen die beiden Kunstformen im wahrsten Sinne des Wortes verkörpert werden. Doch weder Text noch Musik noch Interpret sind letzte Instanz, sondern wir sind es als Zuhörer: In uns – in Kopf wie Herz – findet das eigentliche Klangkino statt, entstehen die imaginären Bilderwelten im Dialog mit unseren eigenen Erfahrungen und Erinnerungen.
© „Der Tod und das Mädchen“ von Hans Baldung/Wikimedia.commons