#akkordarbeit

Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.

Von Ida Hermes, 27.05.2020

Erlebtes, Erträumtes

Wie sehr können Heimat, Herkunft, Identität in der Musik mitklingen? Ein Gespräch mit den Pianistinnen Danae und Kiveli Dörken über Kompositionen von Josef Suk, von Manolis Kalomiris und die Situation auf Lesbos.

niusic: Ihr habt beide kürzlich Alben aufgenommen und davon für unser Gespräch zwei Stücke ausgewählt, über die es sich besonders zu sprechen lohnt: Josef Suks „Erlebtes und Erträumtes“ und die „Cinq Préludes” von Manolis Kalomiris. Wie kommt ihr auf diese Musik?

Kiveli Dörken: Ich bin auf den Zyklus „Erlebtes und Erträumtes“ gestoßen auf der Suche nach einem Stück, das nicht schon in achtunddreißigfacher super fantastischer Ausführung in den Regalen steht! Besonders ist – ich finde man hört das schon im Titel – die große Nähe von Werk und Leben. Auch ich spüre ja als Interpretin ständig, wie mein Leben, meine Gefühle, die Erfahrungen, die ich mache, mein Spiel prägen. Und dieser Zyklus von Suk macht in besonderer Weise ein Fenster auf zu einer Innenwelt. Weit mehr, als das bei so vielen anderen Werken der Fall ist, denen man es vielleicht gerne klischeehaft nachsagt.

Danae Dörken: Bei mir war es so: Ich habe mich im letzten Jahr auf eine Entdeckungsreise begeben, die mich mehr und mehr zu meinen eigenen Wurzeln gebracht hat. Kiveli und ich sind ja Halb-Griechinnen, und Kalomiris kannte ich bisher gar nicht so gut, dabei ist er der Begründer der griechischen Schule, was die klassische Musik angeht! Und er spiegelt die traditionelle griechische Musik und Kultur stark in seinen Kompositionen wider. Sie sind inspiriert von Volkselementen, Volksmelodien, Volksrhythmen, und ich finde da einfach so viel von dem Land wieder, das ich so liebe und wo ich mich selbst wiedererkenne.

#akkordarbeit

Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.

niusic: Josef Suk schrieb seinen Klavierzyklus 1909, die Cinq Préludes von Kalomiris sind von 1939 – ist das für euch Neue Musik?

Danae: Oh, gute Frage … also Kalomiris ist durchaus neu, aber ganz banal gesagt: Es klingt viel zu tonal, um „Neue Musik“ zu sein. Es hat eine Aktualität und Modernität, weil es sich so sehr mit Kultur auseinandersetzt, aber es ist nicht das, was ich verstehe unter diesem Begriff „Neue Musik“.

Kiveli: … und Josef Suk ist ganz sicher keine „Neue Musik“. Er steht am Ende der Romantik, als ein Schüler und großer Verehrer Antonín Dvořáks, und seine Musik gehört ganz in diese Welt. Interessant ist, um einmal den Vergleich zu wagen: Sowohl Suk als auch Kalomiris lassen sich stark beeinflussen von ihrer Heimat, die Herkunft ist in beiden Zyklen ein zentraler Aspekt. Zum Beispiel ist das letzte Stück aus „Erlebtes und Erträumtes“ dem Grabhügel auf dem Vyšehrader Friedhof in Prag gewidmet, wo Suks Idol Dvořák und dessen Tochter Ottilie, mit der Suk verheiratet war, und die früh verstorben ist, begraben liegen – das ist also in mehrfacher Hinsicht sehr nah an der Identität, der Heimat.

„Vielleicht kann man das gar nicht nur auf Kultur oder ein nationales Gefühl reduzieren, sondern müsste sagen: Das ist eine Identität, die sich da ausdrückt.“

Danae Dörken

niusic: Das Anklingen lassen der Heimat ist ja auch bei Dvořák ein zentrales Anliegen – eines, mit dem er aber gehadert hat. Es geht schließlich nicht nur darum, Elemente der Folklore einfließen zu lassen. Wie gehen Suk und Kalomiris damit um?

Danae: Das ist ein schwieriger Grad. Das kann sich leicht im Schwelgerischen verlieren, eindimensional werden. Authentizität ist ein Stichwort. Ich glaube Kalomiris hat eine Weile gebraucht, bis er seinen Umgang damit gefunden hat. Die „Cinq Préludes“ sind eher späte Werke, und ich höre da auch die modernen Techniken durch, die er sich zum Beispiel in seiner Studienzeit in Wien von den Komponisten der Zweiten Wiener Schule abgeguckt hat – und daraus macht er hier etwas Eigenes. Es kommt also vielleicht mal ein ganz klassisch griechischer Tanzrhythmus in der linken Hand, aber den verbindet er dann mit komplexen Umspielungen in der rechten Hand, zum Beispiel. Es ist nie banal.

Kiveli: Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass das Ganze auf einer noch viel unfassbaren, subtileren Ebene stattfindet. Es spiegelt sich ja nicht nur die Heimat, es spiegelt sich auch immer ein inneres Bild, das bereits beeinflusst ist von der Kultur, in der jemand aufgewachsen ist, lange bevor der Wille da ist, für diese Kultur bewusst einen Ausdruck zu finden.

Danae: Vielleicht kann man das auch gar nicht nur auf Kultur oder ein nationales Gefühl reduzieren, sondern müsste sagen: Das ist eine Identität, die sich da ausdrückt. – Und Identität, das ist ein so fluides Konzept!

niusic: Gibt es da in der Musik Stellen, die für euch besonders sind?

Kiveli: Eine einleuchtende Sache war für mich: Josef Suk nennt diesen Zyklus sein „musikalisches Tagebuch“. Von Tag zu Tag ist es eine andere Laune, ein anderer Gemütszustand. Bemerkenswert ist in diesem Kontext das fünfte der zehn Stücke, mit der Überschrift: „Zur Genesung meines Sohnes“. Es ist das einzige Stück, das Suk nochmal aufgreift: an neunter Stelle, kurz vor Schluss, gleich einer Erinnerung – bevor es im letzten Stück auf den Friedhof geht. Da drückt sich so viel aus in der Musik.



Danae: Für mich – von den „Cinq Préludes“ von Kalomiris – ist mir gleich der Mittelteil des ersten Stücks aufgefallen. Da klingt eine orientalisch anmutende Melodie, die mir auf Anhieb bekannt vorkam. Ich habe später verstanden, warum: Kalomiris ist geboren in Izmir. Das ist der Ort – früher Griechenland, heute Türkei – der gegenüber ist von Molyvos liegt, wo unsere griechische Familie herkommt, wo wir jeden Sommer verbracht haben. Grundsätzlich ist die griechische Volksmusik total heterogen, von Region zu Region und Insel zu Insel meint man, in unterschiedliche Länder zu reisen. Und die Volksmusik auf Lesbos ist sehr stark orientalisch angehaucht durch die Nähe zur Türkei und Anatolien und so weiter. Es gibt einen Tanz dort, der heißt „Tsifteteli“, das ist eine Art griechischer Bauchtanz, der getanzt wird zu diesen Melodien. Als ich diesen Einfluss in den „Cinq Préludes“ entdeckt habe, hat es sich für mich auf einmal wie ein roter Faden aufgetan, immer wieder klingt das an – das ist eine Offenbarung.



„Griechenland und Lesbos werden jetzt mehr denn je allein gelassen in dieser Situation.“

Kiveli Dörken

niusic: Dazu noch eine Corona-Frage, weil sie sehr dringlich ist: Vor fünf Jahren habt ihr auf Lesbos das Molyvos-Kammermusikfestival gegründet, wo es darum geht, einen Dialog zu öffnen für Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Kulturen. – Lesbos, mit dem Flüchtlingslager Moria, ist eines der Hauptzentren der Flüchtlingskrise, die Corona-Pandemie wirkt sich dort sehr viel drastischer aus als in Deutschland, eine angemessene mediale Aufmerksamkeit dafür aber fehlt. Könnt ihr etwas erzählen über die Situation auf Lesbos – und was bedeutet das für euer Molyvos-Festival?

Danae: Unser Festival wurde von Anfang begleitet von dieser Situation. Das erste Jahr, in dem es stattgefunden hat, war mehr oder weniger der Höhepunkt der Flüchtlingskrise. – Es ist natürlich absolut kein Problem, das die Musik lösen kann, völlig klar. Aber es ist essenziell, dass man – auch wenn die Plattform noch so klein ist – alles tut, um irgendwie ein wenig Licht auf diesen dunklen Punkt zu bringen. Damit meine ich sowohl die Tragik der Flüchtlinge als auch die der Bewohner:innen der Insel, die ihr Bestes geben und helfen, und darunter leiden, dass der Tourismus schon vor Corona-Zeiten immer weniger wurde, und der bildet ihre Lebensgrundlage. So erschöpfen sich die Möglichkeiten, direkt vor Ort Hilfe zu leisten.

Kiveli: Griechenland und Lesbos werden jetzt mehr denn je allein gelassen in dieser Situation. Und klar, das Molyvos Festival muss dieses Jahr natürlich ausfallen, zumindest in der Version, in der es eigentlich programmiert war. Wir haben uns ein alternatives Format überlegt, wir möchten eine Art binationales Event kreieren, bei dem es also Konzerte in Deutschland und in Griechenland geben wird, größtenteils digital und wenn möglich ab und zu mit einem kleinen Publikum von fünfzig bis hundert Leuten.

Danae: Wir möchten zeigen, wie wir – auch wenn wir an unterschiedlichen Orten sind und unterschiedliche Erfahrungen machen – doch miteinander verbunden sind. Einander helfen und gemeinsam etwas erleben können.

Über die Künstlerinnen

Die Schwestern Danae und Kiveli Dörken sind vielgefragte junge Pianistinnen, die sich bereits international einen Namen gemacht haben. Gemeinsam erarbeiten sie regelmäßig vierhändiges Repertoire und treten als Solistinnen und Kammermusikerinnen auf den Bühnen der renommierten Orchester, Konzerthäuser und Festivals auf. Danaes Soloalbum „East and West“ erschien 2019 bei ARS Produktion, dort wird Anfang Juni auch Kivelis Album mit Werken von Josef Suk veröffentlicht.

© Amanda Holmes
© pixabay
© ARS Produktion / Schimmer PR


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.