#musikstimmen

Hier sind Musikerinnen und Musiker zu Gast. Mit Meinungsbeiträgen und direkten Einblicken aus dem Kulturbetrieb.

Von niusic Kollektiv, 27.02.2021

Wir wollen dürfen

Was war zuerst da: Das Narrativ der undankbaren, unpolitischen Jugend von heute oder das stressende, belastende Streben nach Instagram-Perfektion? Die Pianistin Sophie Pacini sucht nach einer Antwort in der Musik.

Ich sehe Marie oft an ihrem Schreibtisch sitzen, Haarknoten auf dem Kopf, trendbewusst gekleidet. Seit ein paar Monaten schminkt sie sich, achtet sehr auf ihr Gewicht, für eine 13-Jährige schon fast zu viel. Ein leicht melancholischer Schleier umgibt sie, wann immer ich ihr begegne.
Sie sitzt an ihrem Laptop und wählt sich zum Home-Schooling ein, allein. Niemand ist da, mit dem sie ihre neuesten Lied-Entdeckungen austauschen kann oder die neusten Sneaker-Errungenschaften aus dem Internet. Die beginnenden, schüchternen BH-Gespräche mit der Bestie fallen weg, überhaupt umgeben Marie so viele Zweifel, die sich größer und gewichtiger anfühlen, als sie sein dürften, denkt sie – in einer Zeit nämlich, in der es containerweise Probleme gibt, und in der in diesem Zusammenhang so oft das Wort Jugend fällt. Marie fühlt sich schuldig.

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Denn hey, natürlich hat Marie alles, was Kind sich wünschen kann, ein Dach über dem Kopf, warmes Essen, Internet, genug Geld und eine Familie. Dann ist dieses Gefühl der Leere, das sie durchdringt, also „läppisches Wohlstandsgehabe“? Ein Gefühl, für das sie sich in der heutigen Zeit eigentlich eher schämen sollte, als auch noch dafür ernst genommen zu werden? Müsste sie nicht dankbar sein für alles, was ihr zur Verfügung steht, all das, was sie zum Leben und Glücklichsein braucht?

Möchten wir nicht dankbar sein dürfen, statt ständig dankbar sein zu müssen?

Und ja, ganz ehrlich: Marie ist dankbar. Wir sind dankbar. Aber möchten nicht auch wir den Luxus haben, dankbar sein zu dürfen, und nicht dieses Gefühl ständig abrufbereit haben zu müssen? Von Geburt an dankbar, in diese Zeit hineingesetzt worden zu sein. Sei froh, du hast es besser, du hast keine echten Sorgen! Falls du nun aber dieser gefühlten Dankbarkeits-Pflicht gerade nicht nachkommen kannst, weil sich dir andere Denkprozesse aufdrängen und sich deine inneren Prioritäten zeitweise verschieben? Dann ist es sofort da. Das Gefühl der Schuld.

Marie weiß das alles, sie weiß, dass sie privilegiert ist, sie weiß, dass sie keinen äußeren Grund hat, Mangel zu verspüren – oder gar innere Leere bis hin zur ungreifbaren Traurigkeit. Traurigkeit, die derzeit nur für jemanden zu sehen ist, der die emotionale Offenheit hat und Zwischentöne hören kann und will. Auch wenn es still ist.
Und dennoch isst sie weniger, obwohl sie mehr könnte, quält sich mit einem vermeintlich idealen Körperbild, hat kalte Knie, weil zerschlissene Hosen in sind, am besten auch noch knöchelfrei, und der Wettlauf um Anerkennung mit den Gleichaltrigen macht es ihr nicht leichter.

Wer bin ich, was will ich – und darf ich das?

Klar, wie wäre es einfach mit: „Selber Schuld, wenn du dich so konditionieren lässt. Hat dich doch keiner gezwungen, diesen Quatsch mitzumachen. Kümmere dich mal lieber um was Ordentliches, bring es zu was, anstatt nur konform sein zu wollen. Jammer nicht, sondern sei doch einfach anders.“
Hat Marie nur einfach keine Ahnung, was im Leben wichtig ist? Wer bin ich, was will ich, bin ich ernst zu nehmen und vor allem: Darf ich das?

Ich habe das Gefühl, es geht vielen jungen Menschen heute nicht um die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, sondern vielmehr um die Entsprechung einer medialen Erwartung, um die Erfüllung sozialer Konformität und Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken. So versuchen sie, getrieben von dem zermürbenden Wunsch nach ausstellbarer Perfektion, aus den allzu ähnlichen Account-Inhalten hervorzustechen. An der Realität vorbei und an der Realisierung von Zielen, die sie letztlich auch als ihre eigenen umarmen könnten – wenn sie sie kennen würden. Stattdessen ist man Getriebene:r der Anpassung an die eigene Umgebung. Eine Umgebung, die jetzt auch noch physisch gänzlich wegfällt. Was bleibt also? Leere.

„Sich nicht in Formen pressen lassen“, war einer von Beethovens Leitsätzen. „Musik muss nicht schön sein, sondern wahr.“ Das könnten wir eins zu eins übertragen auf unseren Alltag. Könnten wir nicht nur, sollten wir. Wir Menschen müssen nicht schön oder perfekt sein, sondern wahr. Echt. Eigen. Dornig.
Für mich sind all diese Beobachtungen besonders schmerzvoll – ich, die ich mit der Musik und ihrer Botschaft aufgewachsen bin, die sich täglich Ziele stecken konnte innerhalb des Strebens nach unmöglicher Perfektion in der musikalischen, geistigen Auseinandersetzung. Ich, die ich eine Lebensaufgabe, ihre Berufung in der Kunst und deren Vermittlung gefunden habe.

Selfie ist nicht gleich Selbstliebe. Es ist die Hoffnung darauf.

Ich sehe so viele Entfaltungsmöglichkeiten in meiner Generation und der von Marie, der Generation, die gerade nachkommt. Da ist so viel Potenzial, das allerdings unter dem Druck zum Instagram-Gleichmaß klein, ungesehen bleibt. Selfie ist nicht gleich Selbstliebe. Es ist die Hoffnung darauf.
Groß zu werden in den 90ern und 2000ern ist besonders für uns Musiker:innen kein Zuckerschlecken gewesen. Die Globalisierung, die Historisierung und vor allem der digitale Wandel der Zeit ließen und lassen noch immer unsere Köpfe stetig Karussell fahren.

Aber hey, vergesst nicht: Seid dankbar. Dankbar über Agenturen, die dich vermitteln, die dir ein Gütesiegel aufdrücken, Hand in Hand mit Labels, die dich veröffentlichen. Ja, die Gewichtung hat sich verschoben, wenn du nicht aufpasst, bist du schnell nur noch Ausführende:r – aber sei dankbar, überhaupt Beachtung zu finden. Glaubst du nur an die Musik und deine Suche nach Qualität, ist das edel. Sehr edel.
Du musst viele weitere „Skills“ beherrschen, du musst die sozialen Medien bedienen können, dich überwinden, über dich selbst zu sprechen, für dich zu werben, dich anzubieten und dich dabei nicht verbiegen zu lassen. Um eine weitere Existenzberechtigung zu bekommen und die Möglichkeit, deine Meinung äußern zu können und gehört zu werden, musst du einen Grad von Bekanntheit erreichen, der in der heutigen Zeit oft den Gesetzen und Regeln eines populären, konformen Marktes folgt. Aber du darfst dich selbst auf dem Weg dorthin nicht verlieren.

Du hast echte Vorbilder: die Künstler:innen, deren Genie du in den Fingern spürst.

Glücklicherweise stehen dir meistens gute Ratgeber:innen zur Seite, aber hin und wieder begegnen dir auch Meister:innen der Manipulation, die es gilt auseinanderzuhalten im Show-Geschäft. Aber noch bist du jung und hast aufgrund deines Alters noch nicht das Recht zu richten, also musst du lernen, deinen Weg behutsam zu gehen, ohne deine Errungenschaften unbedacht einzureißen, zeitgleich aber deine Werte nicht vernebeln zu lassen. All das hat dir keine:r beigebracht, doch hast du als Musiker:in zwei entscheidende Wegweiser: Die tägliche Aufgabe, Zwischentöne hörbar zu machen, Aussagen zum Leben zu erwecken, deine Wahrheit zu finden und sie immer wieder vor dir selbst zu verteidigen. Und du hast echte Vorbilder: die Künstler:innen, deren Genie du in den Fingern spürst. Menschen mit Missionen, die dem Fortschritt dienten, der Entfaltung neuer Ideen und weiterbringender Gedanken – an vergleichbaren Konformismus wie heute war zu ihrer Zeit kaum zu denken. Im Gegenteil, oft verarmt, gar taub oder todkrank, haben diese Persönlichkeiten uns ihre Visionen hinterlassen. Gegen den Strom, über den Tellerrand hinaus, Grenzen brechend, Horizonte erschließend.

Die Welt als junger Mensch liegt vor dir, ja das tut sie, doch brauchst du Mut, dir deine Zukunft auszudenken, Zuversicht, in dich hinein zu hören, und du brauchst Bilder, die du dir vorstellen kannst. Vor-Bilder. Machst du jedoch den Fernseher oder das Radio an, klickst dich durch die wichtigen Diskursplattformen, um motivierende, erfolgreiche Gleichaltrige oder geringfügig Ältere zu finden, deren Hand du gerne fassen würdest auf deinem Weg, dich selbst zu entdecken – so bleibst du ernüchtert. Du fühlst dich nicht repräsentiert, hast das Gefühl, überall das gleiche zu sehen und zu hören: Du und deine ganze mit dir alternde Jugend, heißt es oft, interessiere sich nicht für Politik, sie verfolge keine Interessen, vergammele vor ihrem Smartphone.
Hallo, Schuld.

Wir bitten um Vertrauen und Glaube an unsere Fähigkeiten

Es ist, als ob wir ein blinder Fleck der Gesellschaft wären, Ballast, der auf den Schultern der Älteren lastet, der nun in Zeiten der Pandemie noch schwerer wiegt. Doch die Wahrheit ist eine andere. Wir bitten um Vertrauen und Glaube an unsere Fähigkeiten, jetzt nur umso mehr. Wir würden gerne mehr junge Vorbilder im Fernsehen und im öffentlichen Dialog sehen, greifbaren Erfolgen nachfingern, mit denen wir uns messen können, und Personen, die uns ihre Vision, ihre Umsetzung, ihre Motivation, kurzum ihren Weg aufzeigen.

Es mag sein, dass noch nicht jede:r die Berührung mit einer Berufung hat, doch jede:r hat das Recht auf das Geschenk der Vermittlung. Wir haben Lust auf das Leben, den nötigen Realismus der Zeit und Idealismus des Moments, um mehr Gehör in den ersten Reihen zu erhalten. Wir wollen keine Helikopter-Verhätschelung und auch keine Schuldgefühle mehr. Wir wollen einfach nur mitmachen dürfen – und gesehen werden.

© Paddy O Sullivan/ Pexels
© Pacini


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