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Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.
Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.
Kurz vor Zehn. Kaffee-Duft weht durch die Stimmzimmer und Künstlergarderoben der Kölner Philharmonie. Menschen stehen in den Gängen, mit Tellern und Tassen, verdecken den Blick auf die cognacfarbene Holztheke, in der sich belegte Brötchen und Pflaumenkuchen stapeln. Dreiklänge und Tonleitern mischen sich in Gespräche ein, im Hintergrund röhrt die Kaffeemaschine. „Noch fünf Minuten“, mahnt eine freundliche Frauenstimme, jetzt schnell nochmal zur Toilette. Zuspätkommen kostet immerhin 100€.
Das Gürzenich-Orchester Köln probt heute für sein zweites Sinfoniekonzert. Schuberts erste Sinfonie, Wagners Feen-Ouvertüre und eine Bearbeitung von Schumann-Liedern von Stefano Gervasoni. Und ich darf zuhören. Das sei keine Selbstverständlichkeit, erfahre ich. Denn während das Gürzenich-Orchester seine Proben im Education-Bereich gerne öffne, gebe es abseits davon im regulären Probenbetrieb doch einige Auflagen. Ich gehe den Gang entlang Richtung Saal und habe das Gefühl, mit Straßenschuhen in ein fremdes Wohnzimmer zu laufen. Was werde ich gleich wohl erleben? Hitzige Diskussionen? Straff organisierte Abläufe? Oder schrankenlose kreative Freiheit? Die Dos & Don’ts sind jedenfalls klar: Ich darf den Platz wechseln, aber nur in der Pause, mit Musikerinnen und Musikern sprechen bitte nur nach Absprache.
Proben, PR, Programmauswahl: Was macht ein Orchester wie das Gürzenich Köln heute einzigartig? Die niusic-Themenreihe.
Auf der Suche nach dem besten Platz gehe ich durch die vorderen Reihen des linken Zuschauerraums. Fünf Violinisten und einige Holzbläser blicken konzentriert auf ihre Noten, während zwei Männer eine Beschädigung im Holzfußboden flicken. Etwas Leim, Schleifpapier. Das Ganze passt noch nicht. Sie werkeln weiter, hinter ihnen füllen sich nach und nach die leeren Plätze. Plötzlich wird es still. Die Konzertmeisterin steht auf, hebt ihre Violine und wendet sich zum ersten Oboisten, der volles Rohr in sein Stimmgerät schmettert. Ein A, 443 Hertz. Während die Kolleg:innen stimmen, weht Philipp von Steinaecker herein, mit fliegenden Locken und Dirigentenstab. Das zweite Sinfoniekonzert wird sein Debüt beim Gürzenich-Orchester Köln sein, verlängerte Proben gibt es deshalb nicht. „Guten Morgen! Wir machen Gervasoni!“, ruft er – und schon geht es los.
Fünf Vormittage und einen Abend hat das Gürzenich-Orchester Zeit, um ein Programm einzustudieren, das es in gleich drei Konzerten präsentieren muss. Viermal 2,5 und zweimal 3 Stunden, dann muss alles sitzen. „Länger dürfen Proben grundsätzlich nicht dauern“, erklärt Orchestermanager Frank Lefers. „Das schreibt der Tarifvertrag so vor. Da ist haargenau aufgesplittet, was man als Arbeitgeber darf und was nicht.“
Der Tarifvertrag
Der Tarifvertrag für die Musiker in Kulturorchestern (TVK) ist eine Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bühnenverein und der Deutschen Orchestervereinigung. Er gruppiert die öffentlich getragenen Orchester in Vergütungsklassen zwischen A und D. Das Gürzenich-Orchester Köln ist mit 131 Planstellen ein A-Orchester mit Zuschlag und damit eines der größten und bestbezahlten Orchester Deutschlands. Außerdem gibt es in Köln einen hauseigenen Tarifvertrag. Er optimiert die allgemeinen Bestimmungen für die Gegebenheiten vor Ort und bringt den Musikerinnen und Musikern zusätzliche Vorteile.
„Es gibt eine Obergrenze, wie viele Dienste wir im Jahr spielen dürfen. Das ist zusätzlich über verschiedene Wochenzyklen geregelt, damit man das Orchester mal stärker belasten kann, um uns danach die Möglichkeit zur Regeneration zu geben.“ Daniel Raabe spielt seit über 25 Jahren Cello im Gürzenich-Orchester. Ein wunderbarer Beruf sei das, aber die Pausen seien in der Musik eben genauso wichtig wie die Noten. „Wenn wir wie diese Woche auch abends noch Vorstellungen in der Oper haben, beansprucht einen das schon sehr. Da bin ich froh, wenn ich mich nachmittags mal ausruhen kann.“ Anna Fritz aus der zweiten Violine nickt zustimmend. „Es ist toll, dass wir nachmittags frei haben. Ich kann immer bei Tageslicht laufen gehen – für mich ein unglaubliches Privileg!“
Anna und Daniel sind die beiden Musiker, mit denen ich heute sprechen darf. Über 20 Jahre Berufserfahrung liegen zwischen den beiden, und trotzdem erzählen sie mir ähnliche Dinge. Von der angenehmen, freundschaftlichen Stimmung im Orchester, den netten Kolleginnen und Kollegen, ihrem flexiblen Alltag. Anna strahlt. „Ich habe die Stelle hier vor drei Jahren bekommen, direkt nach meinem Studium. Das war für mich wie ein Sechser im Lotto, denn manche Kolleg:innen finden auch nach Jahren und vielen Probespielen keinen Platz im Orchester.”
Im Saal der Kölner Philharmonie klingelt es. Drrrrrrrrrrring, dazu ein merkwürdiges Schrappen, Metall auf Backstein. Querflöten, Klarinetten, Blechbläser setzen ein, bohren sich mit aller Härte ins Trommelfell. Das Streicherensemble atmet tief ein, ein kurzes Innehalten, Blickkontakt. Dann reißen fünfunddreißig Zeigefinger an den stahlumwickelten Saiten ihrer Instrumente. Versetzt, Mist. Dirigent Philipp von Steinaecker lässt die Arme sinken und lächelt verschmitzt. „Das habe ich mir gedacht! Gleich nochmal!“ Eine nach der anderen Stelle wird repariert, punktgenau, wie zuvor der Holzfußboden. Es ist selbstredend, dass hier niemand unvorbereitet in die Proben kommt. Denn es braucht nicht nur eine Weile, um die Stellen auszubügeln, an denen es hapert – die wirklich wichtigen Absprachen betreffen die Interpretation.
„Im Prinzip sind wir ja Dienstleister:innen. Wir spielen die Programme, wie sie im Plan stehen, und natürlich muss man sich im Orchester immer auf die Interpretation einigen, die der Dirigent vorgibt. Egal, ob die einem persönlich gefällt oder nicht. Aber das ist ja in dem Fall mein Job und den mache ich dann professionell und so gut wie möglich!”
Anna Fritz (Violine)
Musiker:innen müssen funktionieren, das ist auch im Gürzenich-Orchester Grundvoraussetzung. Es gibt klare Hierarchien, jeder muss seine Rolle erfüllen und wird dabei zu jeder Zeit wahrgenommen. Ein Widerspruch zu jeder Art künstlerischer Individualität? „Früher hat man die Strukturen im Orchester manchmal mit denen beim Militär verglichen“, lacht Daniel. „Das ist natürlich Quatsch. In dem Moment, in dem ein Gefühl von Gemeinsamkeit beim Musizieren entsteht, kann es nicht mehr um Hierarchien gehen. Dann verschmelzen alle zu einem großen Klangkörper, das ist ein großartiges Gefühl.“
Orchestermusiker:in – am Ende also doch der beste Beruf der Welt? Ich steige die vier Treppen aus den Tiefen der Philharmonie hinauf, trete durch die Glastüren des Bühneneingangs ins warme Sonnenlicht. Es ist beachtlich, wie wenig Konkurrenz in diesem Orchester zu spüren ist, wie gut hier alles zu funktionieren scheint. Nervliche Belastung, sozialer Stress, Berufskrankheiten, Leistungsdruck : Probleme, die in der Berichterstattung über die Arbeit im Sinfonieorchester regelmäßig auftauchen, scheinen Anna und Daniel nicht zu berühren. Sind sie Ausnahmen von der Regel? Ist das Gürzenich-Orchester ein perfekter Arbeitgeber? Oder sind sie glücklich trotz harter Bedingungen? Die Wahrheit verbirgt sich hinter Milchglasscheiben.