Von Ida Hermes, 06.05.2021

Das große Mimümi

Von Kunstfreiheit und neuen Welten. Eine Fabel.

Es war einmal ein Adler, schneeweiß und würdevoll. Er liebte die Seen, er liebte die Natur, er liebte das Säuseln der Blätter, das Rauschen des Windes, den kunstvollen Gesang der Vögel in den Bäumen. Der Adler hatte sich ein Nest gebaut, hoch oben in einer Baumkrone. Die Sonne schien mit sanften Strahlen auf diesen Platz, wo der Adler oft saß und lauschte. Von hier aus konnte er die Welt überblicken, Wunder der Schöpfung entstehen und vergehen sehen, und alles schien vollkommen.

Eines Tages kam eine kleine Amsel am Nest des Adlers vorbei. Sie staunte und sprach: „Was für ein schönes Plätzchen! Wie fein Sie es sich eingerichtet haben, Herr Adler!“ Der Adler war zufrieden und lächelte: „Warte bis du älter wirst, mein Kind, dann wirst auch du dir einen Ort schaffen können, an dem du glücklich bist.“ Die kleine Amsel dankte ihm und flog ihrer Wege.

Er sah das Blau, das immer weiter wurde

Immer neue Bäume schossen in die Höhe und immer wenn es Frühling ward, suchte sich der Adler ein neues Plätzchen. Mit weiten Schwingen flog er über das Land und genoss die Schönheit und Vielfalt, die er sah.
In einem Jahr wurde alles anders. Der Adler war weit in Richtung Osten geflogen und plötzlich glitzerte es blau in der Ferne. Der Adler blinzelte mit den Augen. Er sah, dass das Blau immer weiter wurde. Da waren keine Bäume, da waren keine Blumen und Seen, nur ein einziges großes blaues Wasser.

Der Adler kam sich auf einmal sehr klein vor. Schnell flog er zurück gen Westen und machte nicht halt, ehe tausende Stunden zwischen ihm und der Küste lagen.
Er träumte seitdem oft von dem Blau. Was wäre, wenn es dort, unter dem Wasser, ein ganz anderes Leben gäbe, eine ganz andere Welt, die er hier, von oben, gar nicht überblicken könnte?

Eines Tages kam wieder die Amsel vorbei. Sie hatte an die Worte des Adlers gedacht und war weit geflogen, gen Norden, Süden, Osten und Westen. „Oh lieber Adler, wie prachtvoll und schön alles ist!“, sprach sie. „Was für ein Glück wir haben, dass wir unsere Schwingen ausbreiten und so viel erleben können. Doch stell dir vor“, sprach sie weiter, „dort im Wasser, im großen weiten Meer, dort gibt es Welten, die wir uns gar nicht vorstellen können.“

Dem Adler gefiel das nicht. „Ich lebe nun schon so lange in dieser Welt, kleine Amsel. Doch habe ich nichts im Wasser erblickt, das von Schönheit zeugt. Die Wellen, die das Land überrollen, hinterlassen nichts als Zerstörung. Und in dem Wasser treiben die Trümmer unserer Welt.“

Die kleine Amsel, die gar nicht mehr so klein war, flog davon. Sie flog zur Küste, setzte sich auf eine Klippe und dachte über die Worte des Adlers nach.

Von der Geschichte der Welt

Einige Zeit später trafen sich die Amsel und der Adler wieder. Der Adler hatte sich ein Nest in einer großen Eiche gebaut, die hoch in den Himmel ragte, so dass die Welt am Boden kaum mehr zu sehen war und helles Licht den Hort von allen Seiten umflutete. Auf allen Ästen, die in den Himmel ragten, hatte der Adler in mächtigen Runen die Geschichte der Welt niedergeschrieben: über die Bäume und Blumen, die gewachsen und verfallen waren, über die Lüfte, die Sonne und den Gesang und das Geschrei der Vögel im Wald. Die kleine Amsel staunte sehr. Und sie sprach: „Lieber Adler, was du erschaffen hast, ist wunderschön. Doch sage mir: Wie kannst du von der Welt erzählen, wenn du das Meer nicht kennst?“

Der Adler schnaufte. Er war außer sich vor Wut über die neunmalkluge kleine Amsel. „Was verstehst du von der Welt?“, fragte er sie. „Das Meer zerstört unser Leben, es raubt unseren Atem, und bringt nichts als Verwüstung und Leere.“ – „Aber lieber Adler“, erwiderte die Amsel. „Hat uns das Meer nicht alle erschaffen?“ Und sie sprach weiter: „Jetzt, wo du alles so schön niedergeschrieben hast über unsere Welt, wollen wir nicht mal sehen, ob uns die Fische etwas von ihrer erzählen können?“ Da kam ein Otter vorbei und grüßte nach oben: „He, ihr Herrschaften! Ihr wollt etwas hören vom großen weiten Meer? Die Fische im Fluss erzählen davon, wie prachtvoll es in der Tiefe ist; wie viel Leben es dort gibt; und wie viel Schönheit. Möchtet ihr mir zuhören?“

Und sie waren sich alle schrecklich uneinig

Der Adler sprach kein Wort mehr und dachte für sich: „Alle wollen vom Wasser hören. Aber was nutzt es ihnen? Ich kenne die Schönheit der Welt, und nur weil sie sie nicht mehr hören wollen, trage ich sie doch in mir.“ Wie das Meer ihnen schon jetzt Übel brachte! – Denn wie die Wellen das Land überrollten, so spülte alles neue das alte Wissen des Adlers davon. Es bliebe weder das eine noch das andere; die Welt würde vergehen.

Alle Tiere, alle Bienen, Spinnen und Käfer, flogen, krabbelten und wanderten zum Fluss, um den Geschichten des Otters zu lauschen. Sie sprachen auch zu den Fischen und staunten über das Leben, das ihnen bisher verborgen geblieben war. Der Adler hatte über die Wunder ihrer Welt erzählt, aber er hatte ihnen verschwiegen, dass es im Wasser so viel Neues zu entdecken gab. Ein Käfer sprach: „Was brauche ich noch Geschichten über Rosen, wenn ich von Korallen hören kann?“ Ein anderer sprach: „Wie schön doch die Bäume sind, ob es in der Tiefe ähnliche grüne Riesen gibt?“ Ein Dritter rief: „Nun macht es Sinn, warum hier alles lebt und gedeiht: Es ist das Wasser, das uns geschaffen hat.“ Und sie waren sich alle schrecklich uneinig, weil sie gar nicht entscheiden konnten, wo sie anfangen sollten, über die neuen Räume zu berichten und zu staunen.

Aus den Chroniken gestrichen

Nur der Adler saß in seinem Nest. Und er dachte für sich: „Einst war ich der Geschichtenerzähler, der dem Lauf der Welt eine Stimme gab.“ Er blickte über den Wald und murmelte: „Wie sollen sie das Meer verstehen, wenn sie dem Wald nicht mehr zuhören? Wie sollen sie die Schöpfung kennen, wenn alles was sie sehen, in der Wassertiefe liegt?“ Und er dachte an die Amsel, der er so viel gelehrt hatte, doch die nicht verstand, dass das Meer keine Bereicherung war für die Welt und dass das Meer sie nicht geschaffen hatte, sondern dass sie aus einem Ei geschlüpft war. Das echte Leben spielte sich doch hier ab; in dem Raum, den er kannte und in dem er lebte.

Er schloss die Augen. Er war müde von dem Streit. War seine Erfahrung, sein Blick auf die Welt nichts mehr wert? Würden die Geschichten über die Bäume und Seen irgendwann vergessen, würde niemand mehr dem Gesang der Vögel lauschen, dem Säuseln der Blätter, dem Atmen der Natur? Würde das alles vergehen? Und er beschloss: „Ich werde weiter über Bäume schreiben. Ich werde nicht zulassen, dass sie aus den Chroniken der Welt gestrichen werden.“

Und er schrieb und schrieb bis an das Ende seiner Tage. Und seine Seele, als sie in den Himmel stieg, blickte zurück auf sein Werk. Da fiel es ihr auf: Niemals hatte je jemand versucht, dem Adler seine Stimme zu nehmen.

Headerbild: Cristian Palmer / unsplash.com
Foto Schildkröte: Jakob Owens / unsplash.com


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