Von Hannah Schmidt, 18.09.2016

Raumklangzauberei

Zwischen Karlheinz Stockhausen und Johann Sebastian Bach liegen 250 Jahre Musikgeschichte. Bach kannte den Klang von Industriehallen noch nicht, Stockhausen wurde mit ihm groß. Bei der Ruhrtriennale wurden sein Werk „Carré“ und Bachs Messe in h-Moll jetzt an dem gleichen stahlschweren und akustisch ungewöhnlichen Ort aufgeführt: der Jahrhunderthalle in Bochum.

Musik geschieht immer im Raum. Ohne Raum keine Akustik, ohne Akustik keinen Klang. So einfach, so selbstverständlich. Musik braucht Übertragungsfaktoren, also beispielsweise Luft, die schwingen kann. Sie braucht die Akustik des Raumes, um überhaupt hörbar zu werden. Je nach Aufführungsort klingt Musik immer anders, ob nun gepegelt von der Platte, in einem gepolsterten Kinosaal, einer Kirche oder einer Industriehalle, ob verstärkt oder unverstärkt.

Vier Orchester und vier Chöre – in einem Raum.

Karlheinz Stockhausens Stück „Carré“ wurde geschrieben für vier Orchester und vier Chöre in einem Raum. Stockhausen wollte, dass das Stück immer zweimal an einem Abend aufgeführt wird, und dass sich die Besucher in der Pause zwischen den beiden Aufführungen an einen anderen Platz im Raum begeben. Weil das Stück dort noch einmal ganz anders klingt, er das wusste und weil er das seine Besucher spüren lassen wollte.
In der Jahrhunderthalle in Bochum war zwischen den vier Dirigenten am Abend des 18. Augusts ein Abstand von jeweils 35 Metern. „Denen ist die Kinnlade runtergefallen, als sie das erste Mal den Raum hier gesehen haben“, sagt die wohl zentrale Person dieses Konzertabends, Klangregisseurin Kathinka Pasveer. Zwar übten Rupert Huber, Florian Helgath, Matilda Hofmann und Michael Alber vorher „trocken“, wie sie erzählt, im kleineren Kreis auf Stühlen sitzend, die Kontrollübergaben probend, die Schläge, die Tempi. Ein Raum wie die Jahrhunderthalle ist trotzdem gewaltig. „Hier Musik zu hören, ist wunderschön“, sagt Pasveer mit ihrem leichten holländischen Akzent, und man glaubt es ihr sofort.

Katinka Pasveer an ihrem Mischpult.

An ihrem riesigen Mischpult, inmitten der Zuschauer, schloss sie zwischendurch die Augen. „Das war eine absolute Premiere, dass wir bei diesem Konzert alles verstärkt haben“, erzählt sie. „Stockhausen hat sich damals dafür eingesetzt, dass wenigstens die Chöre verstärkt werden, aber mehr war auch nicht möglich, mit Analogtechnik.“ Bei der Ruhrtriennale kam die Musik von Orchestern und Chören also nicht nur live, sondern zugleich noch aus acht riesigen und weiteren acht großen Lautsprechern.

„Ich habe das Gefühl, zwei unterschiedliche Stücke gehört zu haben!“

Eine Besucherin

Die Einsätze, die mal von links oder rechts vorne und mal von hinten kommen, reißen dem Zuhörer jede Kontrolle aus der Hand. Es ist schier unmöglich, sich auf die jeweils bevorstehenden Klänge vorzubereiten – was einerseits an Stockhausens Musik an sich, andererseits aber auch an ihrer Räumlichkeit liegt.
Bei manchen Besuchern bleibt der Eindruck, zwei völlig verschiedene Musiken gehört zu haben: „Beim ersten Mal waren wir gar nicht begeistert“, sagt eine Besucherin, stehend, klatschend. Sie spricht laut, weil man sie sonst nicht verstehen würde in dem rauschenden Applaus. „Wir saßen vorher da hinten“ – sie deutet in die Stuhlreihen zwischen Orchester 1 und Orchester 2 – „und ich habe das Gefühl, zwei unterschiedliche Stücke gehört zu haben!“ Vielleicht liegt es auch daran, vermutet sie, dass sie das Werk vorher nicht kannte, und beim zweiten Hören musikalische Momente und Ideen wiedererkannt hat. „Da findet man sich gleich ganz anders in der Musik zurecht.“ Auch wahr.

Einen Monat später: Bachs Messe in h-Moll

Etwa einen Monat später. Das Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe ist gerade mit der Anspielprobe fertig, die Anfangsakkorde des „Kyrie“ aus Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe verklingen noch zwischen den tonnenschweren Stahlkonstruktionen. Die massig-stolze Jahrhunderthalle sieht an diesem Abend ganz anders aus. Fast bescheiden ist die hintere Ecke der Halle, die sich die Produzenten ausgesucht haben. Sie ist bestuhlt, Schallwände wurden aufgehängt und schallreflektierende Platten unter der Decke angebracht, von einer Leiste im Stahlgebälk hängen winzige Mikrofone herab.
„Ich hätte es auch lieber unverstärkt gemacht“, sagt Philippe Herreweghe vor dem Konzert. „Ich präferiere die ideale natürliche Akustik, aber die ist sehr selten.“ Er mag die Industriehallen des Ruhrgebiets, sagt er, „sie sind architektonisch sehr schön“ und „können sehr gut klingen“ – und zwar, wie er sagt, „schöner als viele Kirchen, die meisten Kirchen sind eine Katastrophe“.

„Hier ist nur Architektur und Musik.“

Philippe Herreweghe

Der ideale Raum für Bachs Musik seien für ihn Häuser wie beispielsweise die Tonhalle in Zürich, der KKL-Konzertsaal in Luzern und das Concertgebouw Amsterdam, obwohl das etwas zu groß sei. Die Jahrhunderthalle sei auf einer Skala von 1 bis 10 eine „Acht oder Sieben, die meisten Kirchen wären eine Vier, unternatürlich“. Hier jetzt, in der Jahrhunderthalle, hängen keine störenden Bilder von Heiligen, zwischen denen Herreweghe ungern Bach spielt, „hier ist nur Architektur und Musik“, sagt er. Als würde diese Halle, ohne selbst Stellung zur Musik zu nehmen, ihr einen Rahmen geben, die Akustik, die sie braucht, um sich voll zu entfalten. Was sein Klang-Ideal sei? „Nun, mein Traum ist immer, dass, wenn Pierre Boulez im Konzert wäre, er alles notieren könnte.“ Boulez, mit seinem absoluten Gehör. „Das Publikum soll alles hören, die Musik soll transparent sein.“

Die Messe klingt unaufgeregt

In der Jahrhunderthalle geht das Licht aus. Das Orchester, der Chor, Philippe Herreweghe betreten die Bühne. Ein bisschen Rest-Tag dringt durch die fernen Fenster am anderen Ende, als die ersten Akkorde erklingen. Langsam wird klar, was Herreweghe gemeint hat mit: „nur Architektur und Musik“, mit Transparenz, dem Überwundenhaben der technischen Fragen. Die Messe klingt bei ihm unaufgeregt und klar, sie ist nicht mit zusätzlicher Bedeutung geschwängert und will nicht bekehren oder den Raum, in dem sie erklingt, heilig werden lassen.

„Gute Musik ist immer gegenwärtig. Aber in diesem Raum wird sie aktualisiert.“

Philippe Herreweghe

Für die Verzierungen im sehr flott musizierten „Credo“ bleibt wenig Zeit, sie kommen perfekt, aber nicht demonstrativ virtuos, ab „Et incarnatus est“ liegt alles, was der Musik immanent ist, offen, nackt und schutzlos da. Das ist das „Wesentliche“, was Herreweghe meinte. Die Musik ist wie mit einem scharf gespitzten Bleistift gezeichnet, sie ist kein van Gogh mit dick aufgetragenen, ineinander verlaufenden Farbschichten. Sie ist eher eine Komposition Kandinskys oder ein Engel von Paul Klee: ein Strich, eine Farbe mehr – also mehr als reine Architektur im Aufführungsraum, breitere Akustik – und es hätte nicht mehr diese Wirkung. „Gute Musik ist immer gegenwärtig“, sagt Herreweghe. „Aber in diesem Raum wird sie aktualisiert.“

Die Ruhrtriennale

Die Ruhtriennale ist ein Kunstfestival im Ruhrgebiet, Spielstätten sind die Industriedenkmäler der Region – also in „Kraftzentralen, Kokereien, Gebläsehallen, Maschinenhäusern und Kohlenmischanlagen, auf Halden und Brachen von Bergbau und Stahlindustrie“, heißt es auf der Homepage.
Alle drei Jahre wechselt die künstlerische Leitung und mit ihr das Programm. Motto der diesjährigen Triennale: „Seid umschlungen“ aus Schillers „Ode an die Freude“, die Ludwig van Beethoven in seiner 9. Sinfonie vertont hat.
Der Intendant der Ruhrtriennale von 2015 - 2017 ist der niederländische Theater- und Opernregisseur Johan Simons.

© Hannah Schmidt
© Volker Beushausen
© Pedro Malinowski


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