Von Hannah Schmidt, 28.11.2017

Currentzis-Manipulentzis

Teodor Currentzis hat Peter Iljitsch Tschaikowskis 6. Sinfonie „Pathétique“ aufgenommen. Von musikalischen „Wundern“ sprechen manche und davon, noch keine so extreme Interpretation des Stückes gehört zu haben. Dabei ist die Aufnahme technisch stark nachbearbeitet – und zeigt ein völlig verfälschtes Klangbild.

Es ging ihm um menschliches Schmerzempfinden, um Einsamkeit, Drama und um Ideen wie diese: „Die Reprise des ersten Satzes kann erst dann zu Ende gehen, wenn das gesamte Orchester Blut vergossen hat.“ So zitiert Margarete Zander den von Teodor Currentzis verfassten Booklet-Text in ihrer Besprechung der neuen Aufnahme als „CD der Woche“ (NDR). Currentzis hat von vornherein eine überbordende Ladung an Emotionalität in diese Aufnahme der mythosumrankten „Pathétique“ gesteckt – und er will, verständlicherweise, dass auch der assoziationsloseste und uninspirierteste Hörer das mitbekommt. Das einzige Problem: Mit rein musikalischen Mitteln schafft Currentzis das anscheinend nicht.

Die „exzessive Ausschöpfung der dynamischen Amplitude“, von der Kai Luehrs-Kaiser im rbb-Kulturradio spricht, die bis ins leiseste „pppppp“ (Times) geht und im Fortissimo eine beachtliche Lautstärke und Fülle entwickelt, ist nämlich hörbar künstlich hergestellt, durch Nachbearbeitung im Studio. Und zwar auf eine Weise, die die Komposition hörbar zerstückelt, sie ihres Spannungsbogens beraubt, die Klangfarbenverteilung und ihre Ausgewogenheit zerstört.



Die Streicher klingen im Verhältnis zu den Blechbläsern im Orchester unnatürlich fett und laut.

Zu Beginn der Durchführung am Ende des ersten Satzes (ab 00:10:14) klingen die Streicher im Verhältnis zu den Blechbläsern im Orchester unnatürlich fett und laut, dass man sogar das Klappern der Bögen auf den Saiten lauter hört als die kurz darauf fortissimo spielenden Posaunen und Trompeten, die hier unwillkürlich in den Hintergrund treten. Wenige Takte später wechselt die Pegelung aber zugunsten der das Thema aufnehmenden Trompeten (00:10:58). Auf diese Weise besteht die ganze Aufnahme aus separat abgemischten und durchgepegelten Klang-Blöcken, die für sich genommen toll klingen – tatsächlich haben die satten Streicher schon kinohafte Hollywoodästhetik, und Currentzis‘ Orchester spielt fantastisch –, aber völlig aus dem musikalischen Zusammenhang gelöst sind.

Hier geht es um Currentzis. Nicht um Tschaikowski.

Befremdlich ist auch, dass zwar das Meiste in der Aufnahme im Studio sorgfältig abgemischt wurde, jedoch Currentzis‘ lautes Schnaufen vor Beginn des vierten Satzes – die Streicher beginnen hier! – stehen gelassen wurde. Kleine Erinnerung an den ach so leidenschaftlichen Dirigenten, der da am Pult steht? Plötzlich riecht alles nach Selbstbeweihräucherung, dass es hier vornehmlich um Currentzis geht. Nicht um Tschaikowski.
Tatsächlich schaffen es gute Dirigenten wie Evgeny Mravinsky oder Dmitrij Kitajenko in entsprechenden Aufnahmen (ab 00:09:26, unten), ihre interpretatorischen Schwerpunkte genauso, wenn nicht deutlicher zu setzen – und zwar ohne nachträglich Klänge am Mischpult zu verstärken. In ihren Interpretationen bleibt die Komposition am Stück, es werden die musikalischen Bögen sicht- und hörbar, die Kommunikation der Stimmen untereinander, und die gesamte Architektur der Sinfonie erhält in jedem Detail ihren Sinn, ohne dass es an Gänsehaut-Momenten, Leidenschaft oder Logik fehlen würde.



Was gewinnt man also durch eine Currentzis-hafte Nachbearbeitung im Studio – und vor allem: Wie ethisch ist eine solche Verfälschung des klanglichen Gleichgewichts? Ist es nicht fahrlässig dem Hörer gegenüber, ihm zwar auf der einen Seite klangliche Momente offenzulegen, die er bisher so vermutlich noch nicht gehört hat, gleichzeitig aber durch technische Verstärkung auch einen Sound zu schaffen, den es im Konzert so niemals geben wird?

„Die Melodie des zweiten Themas [erreicht] ihren emotionalen Höhepunkt, um uns zu reinigen und die Warzen auf unserer Haut in kostbare Juwelen zu verwandeln.“

Teodor Currentzis

Dient ein guter Dirigent der Musik – oder dient er sich selbst und seiner Vermarktung als Künstler? Oder beidem möglichst in fruchtbarem Gleichgewicht? Currentzis, so scheint es, meint es ein bisschen zu gut; sein Verständnis dessen, was Tschaikowski angeblich sagen wollte oder zu sagen hatte, mündet in ständiger Überinterpretation – was sich auch aus so manchem unstimmigen sprachlichen Bild in seinem Booklet-Text herauslesen lässt: „Die Melodie des zweiten Themas [erreicht] ihren emotionalen Höhepunkt, um uns zu reinigen und die Warzen auf unserer Haut in kostbare Juwelen zu verwandeln“ – okay? –, „Unsere Geschichte wird zu einem verblassten Bild in einem vergessenen Gesangbuch“, und: „wieder ist ganz klar, dass man in diesem Himmel keine Schritte machen kann. Man muss durch die Luft unserer Schöpfung fliegen, von Fenster zu Fenster. Und wieder hat man das Gefühl, als wären alle toten Komponisten zu Besuch gekommen. […] Sie möchten uns abholen.“ Das ist sprachlicher Kitsch auf allerhöchster Stufe.

Glaubt man Currentzis, so offenbart er in diesem Text und in dieser Interpretation exhibitionistisch sein Allerinnerstes, was ihn – allein aus Respekt vor der Verletzlichkeit, die er damit eingeht – für mich unangreifbar machen würde. Empfindet er all das, was er da schreibt, wirklich genau so, habe ich kein Recht, darüber negativ zu urteilen. Als Hörerin habe ich aber ein Recht darauf, in meinem Hören nicht manipuliert zu werden. Wenn Currentzis bestimmte Klänge in seiner Interpretation erreichen und hervorheben möchte, dann soll er das mit den ihm zur Verfügung stehenden musikalischen Mitteln tun. Alles andere ist jedoch ein Scheitern vor seinem eigenen Anspruch, ein guter Dirigent zu sein.


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Peter Iljitsch Tschaikowski

Tchaikovsky Symphony No. 6 Pathétique

Teodor Currentzis, MusicAeterna

Sony

© pxhere.com/CC0
© Alisa Calipso for Malina/ teodor-currentzis.com


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