#akkordarbeit
Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.
Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.
niusic: Ein Notenrepertoire, dass wohl nie komplett erschlossen sein wird, liegt in den Bibliotheken der Welt – warum sollten Musiker und Musikerinnen Musik erfinden, warum sollten Sie improvisieren?
Milliken: Ich glaube jede:r hat eine Sprache auf dem Instrument, die einzigartig ist, eine, die zu einem gehört. Diese kann ich Komponist:innen, wie zum Beispiel Boulez, anbieten. Der hat dann aber andere Ideen, ich stehe, wenn ich sein Stück spiele, komplett in seinem Dienst. Sich musikalisch wirklich selbst ausdrücken, funktioniert also nur in der Improvisation.
niusic: Gerade in der zeitgenössischen Musik sind die Freiheiten doch so groß, vielen Musikerinnen und Musikern schon zu groß. Was kann Improvisation denn noch mehr?
Milliken: Sie spielen ein Theaterstück von Shakespeare. In einer freien Deutung. Mit allen Freiheiten, Ihre Rolle zu gestalten. Oder Sie sind ein Storyteller, kennen Ihre Sprache, aber erfinden sie im Moment neu. Das ist so ein fantastisches Gefühl: Wie eine Skulptur in der Luft, die man immer wieder neu justiert. Mit dem Ziel: Wie kann ich am besten und ergreifendsten erzählen?
niusic: Ihre neue CD Two Step bietet fast eine Stunde durchgängige Musik, Duos oder Trios, Solostücke. Freie Improvisations-Sessions, die Sie im Studio neu zusammengemischt haben. Also war es nun eine Komposition von Ihnen, insgesamt, oder eine Improvisation?
Milliken: Ich habe vorher Leitfäden gedacht, kompositorisch. Zum Teil auch mit den Musikern und Musikerinnen zusammen. Aber ich habe schnell gemerkt, das Projekt wird gerade lebendig durch die Situation mit dem oder der jeweiligen Spielpartner:in. Als dann alle Aufnahmen fertig waren, gab es die Aufgabe, diese im Studio zusammenzubringen. Irgendwie habe ich wohl die Corona-Zeit im Voraus geahnt. Ich habe hier mit einem Dutzend Menschen zusammengespielt. Aber nie sind mehrere zusammen im Studio gewesen, es war ein effizientes Projekt.
Klängen auf den Grund gehen, der Musik näher kommen. Die niusic-Themenreihe wirft einen Blick durch die Brille der Interpret:innen und sucht im Kleinen neue Perspektiven auf das große Ganze.
niusic: Es spielen also einige nur digital zusammen?
Milliken: Richtig! Gut, ich kenne die meisten der Leute seit Jahren und einige kennen sich unter sich, andere nicht. Da ist also trotzdem eine kollektive Sprache, das merkte ich spätestens im Studio, als ich die Tracks zusammenstellte. Manchmal war ich überrascht über die Empathie, die es da gab.
niusic: So etwas wie der Abschnitt, in dem Sie mit Dietmar Wiesner an der Flöte im Duo spielen, war aber vorher auskomponiert, oder?
Milliken: Nein, wir spielen einfach seit 30 Jahren zusammen! Mit denselben Bibliotheken im Kopf sozusagen. Nur ein Triller in einer Lage und wir verstehen uns. Ist das gut, dass man das denkt?
niusic: Erstaunlich ist es auf jeden Fall. Dabei sagt man klassisch ausgebildeten Musiker:innen oft nach, sie könnten nicht gut improvisieren.
Milliken: Ja das stimmt, denn in der typischen klassischen Musik schaut man, dass man etwas ausdrückt, nicht danach, was man erfinden kann. Die Ziele sind also verschieden.
Ich höre Spaltklänge auf der Oboe. Oder nein! Viel mehr: Ich habe eine Sprache der Spaltklänge, in der ich flexibel bin und weiß, dieser ist diffus, dieser konsonant! Ich kenne mein Spektrum und das hilft mir, denn ich weiß, wie ich über Schlagzeug klingen kann, oder im Zusammenspiel mit Brett Deans genialen hohen Viola-Akkorden. Letztlich ist es eine bestimmte Art des Hörens. Als Improvisierende:r beginnt man, im Klang Variablen zu hören, man setzt die Lupe an.
niusic: Gibt es Tipps oder ist der Vorgang zu individuell?
Milliken: Ich glaube für mich war es eine Offenbarung, als ich das Stück Spiral mit Stockhausen studiert habe. Da ist mein Hirn fast geplatzt. Das hat mir gezeigt, es ist eine intellektuelle Sache, es fordert. Dann war da ein Improvisationskurs mit Keith Johnstone, dem großen englischen Improvisator. Alle Übungen, es ging um Theater, waren so aufgebaut, dass man sich nie mit einem Nein blockieren konnte. Nie abphrasieren, so dass es immer weitergehen kann, das ist essentiell.
niusic: Gut, aber wie umgehe ich die Sicherheit, in meiner Kadenz zu bleiben? Wir suchen doch automatisch Strukturen, wie komme ich da heraus?
Milliken: Indem man die Kraft eines Tones lernt, die Kraft eines Akkordes. Dann geht der hin, wo man nie denken würde, dass er hingeht. Man probiert aus, ohne Urteil, ohne die ständige kleine Stimme im Kopf.
niusic: Haben Sie, abseits von Boulez und Stockhausen, zum Beispiel von Frank Zappa etwas mitgenommen, also außerhalb der typischen Avantgardisten?
Milliken: Zappa wollte nie viel proben, er meinte, wenn es nicht gleich klappt, klappt es nie. Wir als Gruppe haben das schätzen gelernt, wie schnell er denkt und umsetzt. Ich habe mich da von dem Gedanken befreit, dass man sich alles erarbeiten kann.Töne beißen nicht, die sind da und wollen gesendet werden.
niusic: Warum brauchen wir dann auf Two Step auch noch Rezitation? Ist das ein Anker für das Publikum in all diesen Freiheiten?
Milliken: Ich mag Gertrude Stein, ihre Sammlung Tender Buttons und den Kubismus, diese Sicht auf die Kunst. Das begleitet mich schon Jahre. Mir war bewusst, dass diese Aufnahmen einen Perspektivwechsel anbieten, aber auch Phrasierung brauchen. Dafür waren die Texte von Stein: Es ging um Verstärkung der Dreidimensionalität und um Phrasierung.
niusic: Ist es nicht seltsam, dass nun Ihre Momentaufnahmen für die Ewigkeit bestehen? Wollen Sie manchmal nicht etwas ändern?
Milliken: Eigentlich nicht. Es gab nichts Erfüllenderes, als mit meinen langjährigen Weggefährten und Weggefährtinnen auf eine so persönliche Weise zu musizieren und das auch zu dokumentieren.
niusic: Was reizt Sie jetzt als nächstes?
Milliken: Ich habe in letzter Zeit viel von zuhause gespielt, das war angenehm. Wenn die Technik weiter fortschreitet und man auch mal hört, was man spielt, ist das eine Möglichkeit der Zukunft. Doch gerade habe ich endlich, nach langer Zeit, wieder ein paar Freunde und Freundinnen hier bei mir. Und als wir das erste Mal wieder zusammengespielt haben, hätte ich fast geweint.
Über die Künstlerin Cathy Milliken
Catherine Milliken wurde in Australien geboren. Sie ist Oboistin und komponiert selbst, arbeitete auch lange im Kreativprogramm der Berliner Philharmoniker. Außerdem hat Milliken das Ensemble Modern mitbegründet, welches mit den wichtigsten Komponist:innen der Avantgarde zusammen gearbeitet hat.