Von Carsten Hinrichs, 26.10.2019

Einfalls-Pinsel

Das Wesen der Inspiration zu ergründen hieße, das Geheimnis der Kunst zu lüften. Ganz so weit muss es ja nicht kommen. Aber wenn der Abgabetermin droht, können Komponisten wie Haydn, Brahms oder Cage zumindest als Vorbild zur Seite stehen.

Ich bin am Ende. Und zwar noch bevor ich angefangen habe. Um Mitternacht soll die neue Kolumne online sein und mein Kopf ist so leer, wie das weiße Rechteck auf dem Monitor vor mir. Nur der Cursor blinkt erwartungsvoll: aufrecht, streng, schwarz. Doch das gibt meinen Gedanken keinen Impuls. Mit den Minuten steigt der Stresspegel, ich möchte nicht bis in die Nacht sitzen.

Die Inspiration ist schon ein seltsames Tier, manchmal kann man mit ihr herumtollen wie mit einem jungen Hund, und die Einfälle jagen sich nur so. Und dann ist sie wieder scheu wie ein Rehkitz. Schon der Begriff verweist darauf, dass hier Mächte am Werk sind, die von außen zu kommen scheinen: „In-Spirare“, Einhauchen. Dem Schöpfenden scheint sein Einfall plötzlich vor Augen zu stehen. Da fällt mir Antonio Vivaldi ein, der seine erste Veröffentlichung von Violinkonzerten verkaufswirksam „L’estro armonico“ nannte, in etwa „Der harmonische Geistesblitz“. Kein Wunder, dass ihn diese Konzerte über Nacht weit über Venedig hinaus bekannt machten.



Das Wesen der Inspiration vollends zu ergründen hieße, das Geheimnis der Kunst zu lüften. Die moderne Kreativitätsforschung ist zumindest so weit, dass sie ein paar Faktoren benennen kann. „Kreative Menschen sind häufig besonders intelligent und neugierig“ – unwillkürlich fallen mir die Tagebücher von Wolfgang Amadeus Mozart ein, der als kleiner Knirps halb Europa bereist und seiner Mutter sprudelnd vor Begeisterung aus Neapel schreibt. Halb auf Deutsch, und bereits halb auf Italienisch. Die so erworbene breite Informationsbasis ist Ausgangspunkt aller Kreativität („der präfrontale Cortex gewährleistet die hohe Konnektivität der Hirnareale“... aha!), doch nur, wer sich nach der Fülle der Eindrücke auch zu sammeln vermag, hat Aussicht auf den ersehnten Zündfunken der Kreaitivität (Fokussierung – da hat das seitliche Stirnhirn seinen großen Auftritt).

Den bewussten Teil des Gehirns so beschäftigen, dass der unbewusste Teil mehr Spiel-Raum bekommt.

Von Joseph Haydn wird erzählt, dass er im Alter einen Tagesablauf wie ein Uhrwerk hatte. Vom Barock bis ins 19. Jahrhundert, vom livrierten Diener zum freischaffenden Künstler reicht sein Lebensweg. Wenn dem Lakai nichts einfällt, kriegt er eine Backpfeife – doch der Komponist verhungert. Haydn hatte gelernt, wie er das scheue Rehkitz Inspiration präzise herauslocken konnte, und zwar durch gleichförmige Routine. Halb sieben aus den Federn, rasieren, beim Anziehen der erste Klavierschüler. Um acht Frühstück, danach bis halb zwölf am Klavier improvisieren, lose durch die Einfälle streifen (und den präfrontalen Cortex zum Glühen bringen). Gute Einfälle werden notiert. Spazieren, Mittagessen, Lesen. Um halb vier nimmt er das Gefundene wieder hervor, diesmal in der Rolle des musikalischen Handwerkers (Fokussierung! Seitenhirn!). Wer so seinen Tag verbringt, kann abends um acht beschwingt das Haus verlassen. Oder Sinfonien schreiben, die vor Brillanz und Einfällen nur so sprühen.



Nicht schlecht. Mache ich gleich morgen ...autsch!

Jetzt lerne ich das Default Mode Network kennen. Das sind die Aktivitäten des Gehirns, wenn wir meinen, es hätte keine. Tatsächlich spielen die von uns nicht steuerbaren Handlungen eine zentrale Rolle bei der Kreativität. Ihr Nachteil: Sie sind eben nicht steuerbar. Zunächst sollte man die Zufuhr an neuen Reizen unterbrechen („Infostopp“) und dann den bewussten Teil so beschäftigen, dass der unbewusste Teil ohne die Kontrolle mehr Spiel-Raum hat. Das geht bei Routine-Handlungen, zum Beispiel morgens unter der Dusche oder beim Spazierengehen in der Natur. Sowohl Gustav Mahler als auch Johannes Brahms wussten darum und haben ihren Sommerferien zu Fuß ganze Sinfonien entlockt.



Spätestens jetzt erkenne ich aber auch, wo es bei mir gerade mit der Kreativität hapert. Ich bin überarbeitet, es ist Freitagabend und mein Default Mode Network hat längst den Dienst quittiert. Kein Spiel-Raum mehr übrig. Mein Geist wacht schlecht gelaunt über das Häuflein Buchstaben, das der Lichtkegel aus meiner Tastatur zu stanzen scheint. Zeit für einen Tipp von John Cage, diesem geradezu anarchisch-spielfreudigen Geist. Der passionierte Pilzsammler und -spezialist war wie Brahms und Mahler ein Freund des Waldes, der Stunden in Stille und Einsamkeit zubringen konnte. Und der dort gelernt hat, dass es manchmal alles andere als nichtssagend ist, wenn man nichts zu sagen hat.




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