Von Carsten Hinrichs, 11.11.2016

Wa(h)re Klassik

Klassische Musik wirkt unmittelbar auf mich, kann mich im Innersten berühren, ja aufwühlen. Wer mit Musik Handel treibt, macht also mein Seelenleben zu Geld. Widerlich – oder nicht?

Ein Moment, der die Wurzeln meiner Existenz bloßlegt: Wenn ich Musik höre, die mich begeistert, nimmt sie Besitz von Geist und Seele. Fordert den Kopf und füttert das Herz, und dann wieder umgekehrt. Bei Musik durchströmt mich mit Gewissheit, dass ich ein Mensch bin, denn hier spüre ich die Dualität von Verstand und Gefühl, und das im Augenblick ihrer Versöhnung.
Musik, wie alle Kunst, vermag uns an Quellen unseres Daseins zu führen, die mehr Gewicht haben als der vielstimmige Alltag, als Kommerz oder Konventionen, ja sogar: als wir selbst. Denn in unserer Beschäftigung mit kunstvoller Musik treten wir in Zwiesprache mit einer Tradition, die lange vor uns begonnen hat, und schreiben sie fort für die Generationen, die nach uns kommen werden. Kasse bitte!

Musik als Ware, billig, verflacht und vergiftet vom Kommerz, dem Buhlen um Käufer.

Brahms‘ Streichquartette: € 19,99. Mahlers Sinfonien komplett: € 34,99. Und am Ende des Displays mit den Charts haben wir auch Bachs Gesamtwerk für € 199. Aber das läuft gerade schlecht, trotz Reformationsjubiläum. Wenn Sie nicht so auf Puccini stehen, obwohl der eigentlich gut hörbar ist, kann ich Ihnen auch das neue Album der Sopranistin empfehlen, da hat sie mal die Operetten-Evergreens aufgenommen, die ihr schon lange wirklich sehr am Herzen liegen. Größer könnte der Kontrast kaum sein: Musik als Ware, billig, verflacht und vergiftet vom Kommerz, dem Buhlen um Käufer. Der Händler, der Musik auf CD gepresst verkauft, macht sich – mehr als bei Konzert oder Stream – scheinbar des vorsätzlichen Austauschs von Wert gegen Preis schuldig. Und ist natürlich ein Beutelschneider, da er mein Seelenleben zu Geld machen und mir verkaufen will, was ohnehin nur mir gehören kann – den Kunstgenuss.

Woher kommt diese immanente Abscheu vor dem Handel mit klassischer Musik? Profanierung, Massenware, Ramsch sind Randbereiche, die alle Kunstformen treffen – und in der Pop-Musik sogar als erstrebenswert gelten. Das Album, das Lebensgefühl vermittelt UND von allen gekauft wird, ist ein Treffer. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein Van-Gogh-Kenner die „Sonnenblumen“ auf einem Frühstücksbrettchen ähnlich ekelhaft findet, wie manche Kollegen die Frühstücksklassik. Unterstreicht es nicht eher sein Selbstverständnis, dass er sich mit etwas beschäftigt, das auch außerhalb seines Forscherzirkels bekannt und begehrt ist, wenn hier auch als mundgerecht zugeschnittener Gebrauchsartikel? Natürlich stimmt das Argument, dass das Marketing der Mainstream-Ware ein plakatives Bild einer Kunstform dominieren lässt, aber dennoch verankert es damit diese Kunstform zugleich im Bewusstsein der Mehrheit. Litten denn Gemälde wie die Venus von Botticelli unter ihrer massenhaften Vervielfältigung als knallbunte Poster-Pop-Art? Oder doppelt das nicht eher den Wert der Vorlage als Ikone, als ein anverwandelbares, dabei im Kern unzerstörbares und gültiges Kunstwerk? Das geht gerade im Fall klassischer Musik oft genug schief – ich denke an Reißbrettkonzepte zur ‚Verjüngung‘ der vermeintlich alten, sperrigen Klassik, die auf mich peinlich anbiedernd und unauthentisch wirken –, wird dann aber doch dem Bearbeiter angekreidet, nicht der Vorlage. Der Pianist Glenn Gould hat das einmal für Bach in Anspruch genommen, er habe so gut geschrieben, dass nicht mal ein Arrangement von Wagnertuben seine Musik verderben könne. Das ist große Kunst.

Finden Van-Gogh-Kenner die „Sonnenblumen“ auf einem Frühstücksbrettchen ähnlich ekelhaft, wie manche Kollegen die Frühstücksklassik?

Wer wissen will, was sich in unserem Metier mit Gewinn verkaufen lässt, der werfe einen Blick auf die Ständer großer Elektromärkte. Hier steht die Ware Klassik, ihres Nimbus entkleidet und muss mit Computerspielen, Flachbildschirmen und Kaffeeautomaten um Aufmerksamkeit streiten. Wäre ich für meinen Musikgenuss auf diese Auswahl beschränkt, ich wäre kein dankbarer Kunde. Die Arien-Alben, die Best-Of-Classics-Sampler und Filmmusik-Sinfonien sind nicht für mich gemacht – indirekt aber schon. Denn sie alle finanzieren ja die Produktion von Musik mit, die ich liebe. Noch. Und so wenig mein Herz privat für Mainstream-Produkte schlägt, so sehr geht mir das reflexhafte Bashing der Musikindustrie und die ewige Vermarktungsschelte auf den Keks. Meist kommt das aber gar nicht aus dem Mund der Käufer, sondern von Profis, die sich mit solchen Aussagen als abgeklärt und von besserem Geschmack zu profilieren versuchen – während sie selbst ihr Geld mit Musik machen.



Aber hindern mich denn der Starkult und die seichte Vermarktungsschiene rund um den Heldentenor wirklich daran, ihn in einem fantastischen Verdi-Requiem als einen der besten unserer Zeit zu genießen? Ist die Sopranistin in meinen Ohren wirklich verbrannt, nur weil sie als Glitzerroulade im Fernsehen gefeiert wird, als ein Aushängeschild klassischer Musik? Macht es mir das herbstlich getönte Einheitsgekreise von Klavierbarden und Barock-Repeatern denn unmöglich, Chopin-Walzer oder aufführungspraktische Finessen bei Vivaldi zu genießen?

Wir sollten uns davor fürchten, dass klassische Musik eines Tages nicht mehr popkulturell vermarktet wird. Bald darauf werden die Konzerthäuser schließen müssen.

Zu Zeiten von Carl Philipp Emanuel Bach waren die Grenzen zwischen Kennern und Liebhabern noch fließend und keine Einbahnstraße zu höheren Weihen. Der Musikprofi Bach, der hochkarätig ausgebildet einem flötenden König jahrelang am Cembalo aufwarten musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wusste, dass es ohne eine große Zahl an wörtlich „Amateuren“ auch keine Kenner geben kann. Es ist also unsinnig, mit gerümpfter Nase nach dem vermeintlichen Parkettgeschmack zu treten – wir stehen auf seinen Schultern. Auch materiell. Es ist kein Phänomen unserer Tage, dass der Konsum von Musik die Freude an der inhaltlichen Auseinandersetzung damit übertrifft. Auch die Wiener Nachbarn Ludwig van Beethovens verbrachten mehr Zeit auf Tanzbällen und bei den Wirtshausschrammeln als im Konzert bei der Uraufführung von Sinfonien. Wir sollten uns davor fürchten, dass klassische Musik eines Tages nicht mehr popkulturell vermarktet wird. Bald darauf werden die Konzerthäuser schließen müssen. Es war das Bürgertum des vorletzten Jahrhunderts, das – mit einem Seitenblick auf den konsumorientierten Adel – die Wissenschaft von der Musik und das fleißige Kennertum zum Distinktionsmerkmal erhob. Und so den Wichtigtuer, Interpreten-Dropper und „Pssst!“-Zischler im Konzertsaal erst in die Position hievte, den Musikkonsumenten zu verachten.
Dass Klassik an Relevanz in gesellschaftlicher Hinsicht eingebüßt hat, tut weh, vor allem jenen, die sich auch beruflich damit identifizieren. Vielleicht lauert dieser Schmerz auch hinter dem Reflex, auf die Profanierung von klassischer Musik zu schimpfen. Dabei ermöglicht es das Ende der Musikkennerschaft als Statussymbol, Wissen und Leidenschaft mit anderen zu teilen, ohne die Angst, einen Vorsprung an Geltung einzubüßen. Klassische Musik findet sich nun in einen Strudel von medialen Angeboten hineingezogen, neben denen sie nicht immer die attraktivste Figur macht, denn sie kann komplex und fordernd sein. Aber nur, wenn Kunst überprüfbar ist und Inhalte aussortiert werden dürfen, kann dieses kulturelle Erbe lebendig bleiben und von jeder neuen Generation für sich entdeckt werden.

Ich gestehe, auch ich bin längst nicht immer in Stimmung für das ganz tiefe Eintauchen: Oft höre ich Musik nur so, wie ein Jogger nebenher seine Beine ausschüttelt. Dann aber bekomme ich plötzlich wieder Lust auf ein spezielles Stück, ein Werk oder eine Epoche und grabe mich wie ein Maulwurf durch das mürbe duftende Erdreich spätromantischer Meisterwerke. Immer wieder neu. Supported by Einaudi, Garrett und Arien-Recitals für alle da draußen, die Klassik einfach so am liebsten hören.


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