Von Carsten Hinrichs, 20.04.2019

Huchkultur

Da war doch mal was – Notre Dame de Paris, oder: Warum uns heute erst die Ruinen lieb und teuer sind.

Am Gate angekommen, gehe ich auf Empfang – und traue meinen Augen nicht. Aus dem Dachstuhl von Notre Dame, von dem ich gestern noch Fotos machte, schlagen die Flammen. Den ganzen restlichen Abend verfolgen die Welt und ich atemlos den Wettlauf gegen das Feuer. Das Video vom einstürzenden Dachreiter: in Dauerschleife. Und bereits als die ersten vorsichtigen Stimmen Entwarnung geben, brandet die Empathie zurück als Welle der Hilfsbereitschaft. Spender überschlagen sich mit ihren Summen. Stand Notre Dame zuvor schon mit 13 Millionen Besuchern jährlich weit oben auf der ToDo-Liste der Touristen, so hat ihre Brandruine den Eiffelturm, heute in aller Welt wohl das eigentliche Wahrzeichen von Paris, an diesem Abend als „Sympathieträger“ spielend überholt.

„Can`t bare watch that video of the spire collapsing, it`s like watching something you love so much crumble in front of you.“

Halogen Star, Kommentar auf YouTube

Der nächste Tag brachte die ersehnte Entwarnung. Und bei mir eine gewisse Skepsis in Bezug auf die kollektiv entladene Erschütterung. Wer kann denn ernsthaft für sich eine innige persönliche Beziehung zum Vierungsturm reklamieren, wie online zu lesen war? Notre Dame ist baulich doch ein Fremdkörper, steingewordenes Zeugnis einer längst vergangenen Epoche, an dessen Anblick man sich als Stadtmensch halt gewöhnt hat. Mir scheint, erst dass die Kathedrale nun brannte, ruft sie wieder in Erinnerung. Natürlich ist Notre Dame ein Wahrzeichen der Stadt, stand ehrwürdig stumm durch Jahrhunderte inmitten der Geschichte und Geschichten dieser Metropole und ihrer Nation. Sie ist somit von außen betrachtet ein Identifikationsfaktor für alle Pariser und Paris-Freunde.
Wohlgemerkt von außen betrachtet, ihre Inhalte sind uns fern. Damit meine ich gar nicht mal den Katholizismus: Die Gotik und das Generationenunterfangen, eine Kathedrale zu bauen, sie haben hier ihren Anfang genommen. In Notre Dame ist das 12. Jahrhundert lebendig, das Zeitalter der Kreuzzüge. Hier stand auch eine der Wiegen der Mehrstimmigkeit, als unter den Meistern Léonin und Pérotin Choral-Organa erklangen: kreisend und in merkwürdigen Pumpbewegungen ranken sich die kühl wirkenden Quart- und Quintklänge in den hohen Chorraum. Doch schon Victor Hugo hat aus dem Unverständnis der zeitlichen Ferne sein Kapital geschlagen; bot sie ihm doch die Chance, in seinem Roman „Notre Dame de Paris“ das noch unerforschte Mittelalter kräftig auszuschmücken und seiner Zeit ein Porträt im Kostüm vorzulegen. Angesichts dieser zeitlichen Ferne wirkt auch die Wucht der jüngsten Betroffenheitswelle seltsam losgelöst vom eigentlichen Gegenstand. Ein bißchen ähnelt sie der Staatstrauer um Lady Di.

Ich glaube, das bittere Gefühl von Verlust, das fast jeder empfand angesichts der brennenden Kathedrale, speiste sich nicht allein aus den spektakulären Bildern und ihrer unangenehmen Nähe zu den Doppeltürmen des 11. Septembers, oder aus persönlichen Erinnerungen an einen Besuch an der Seine, sondern noch aus einer anderen, tieferen Quelle. Lange Diskussionen über Zugehörigkeit und Ausgrenzung, über Werte und Nation haben jeden von uns dazu genötigt, sich mit der eigenen Identität tiefer und kritischer auseinanderzusetzen. Und sie haben vielleicht auch bei denjenigen, die diese Diskussion gar nicht eröffnet hatten, mittlerweile den Eindruck erzeugt, dass wir uns – warum auch immer – von manchen kulturellen Wurzeln schleichend entfernt haben, ohne es zu realisieren. Notre Dame in Flammen, das gab diesem seit langem schwelenden Gefühl von Verlust plötzlich ein Bild. Als hätte jemand nicht aufgepasst, und nun ist es passiert. Huch! So ein Mist, unsere schöne Vergangenheit.

Vielleicht lag aber nach dem Brandgeruch von Notre Dame auch so etwas wie Frühling in der Luft. Es könnte doch sein, dass sich als Reaktion auf das Geschrei vom Untergang des christlichen Abendlandes der letzten Jahre langsam eine Gegenbewegung formiert. Ich hoffe sehr, dass die Betroffenheitswoge nicht nur kurzlebige Huch-Kultur ist, sondern das Bewusstsein verankert, auf welch reichem Erbe wir Menschen eigentlich sitzen – bewahrt in Architektur, Schrift und Kunst. Und dass es sich lohnt, immer wieder Neues von diesem Erbe in Besitz zu nehmen und dadurch lebendig werden zu lassen, dass man es erfährt. Ein solches Erbe kann gar nicht abbrennen, nur in Vergessenheit geraten.

Dass Notre Dame, obwohl sie inmitten von Paris steht, nicht von dieser Welt ist, verdeutlicht die Musik wesentlich stärker als die Architektur. Aber auch sie gehört zu unseren Wurzeln. Wenn man also bereit ist, die Unmittelbarkeit großer historischer Distanz zu erleben, könnte ein Stelldichein mit Pérotin noch ein ganz besonderer Abend werden. Die Osternacht wäre ja schon mal kein schlechter Anlass dafür.



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