Von Anna Vogt, 05.10.2019

Zu schön, um wahr zu sein

Schmusegeiger André Rieu ist gerade 70 geworden und mit ihm ein musikalisches Kommerz-System, das polarisiert. Woran liegt eigentlich die reflexhafte Abneigung der meisten Klassikliebhaber gegen den „Walzerkönig“? niusic-Autorin Anna Vogt hat sich mit ihrem eigenen Widerwillen auseinandergesetzt.

Auf kaum einen Musiker reagiere ich so emotional wie auf Geiger André Rieu und sein Johann-Strauß-Orchester. Negativ emotional allerdings, fast wie bei einer Phobie. Wenn ich ausversehen im Fernsehen über eine seiner Schunkel-Shows stolpere, schaudert es mich und ich zappe unwillkürlich weiter. Jetzt, zu seinem 70. Geburtstag, will ich das System Rieu wenigstens versuchen zu verstehen. Auch Phobien bekämpft man am besten durch direkte Konfrontation, also schaue ich mich durch seine Videos und beobachte, was dabei mit mir passiert. Was genau triggert mich so stark bei André Rieu, mehr als bei Schlagersängern zum Beispiel, die mit ähnlichen Mitteln, aber ohne Geige und vermeintliche „Klassik“ arbeiten?

„Mitschunkeln, mitsummen, klatschen, springen – erlaubt ist, was gefällt!“

André Rieu

André Rieu ist seit Jahrzehnten unfassbar erfolgreich. 2018 hat er 700.000 Konzerttickets verkauft und in den letzten Jahren insgesamt über 40 Millionen Platten. Mit ein paar Klicks kann man das alles direkt auf seiner Website bestellen: Konzertkarten, DVDs, CDs. Außerdem Fanartikel wie T-Shirts, Kissenbezüge und Tassen, von denen einen sein sonnengebräuntes Gesicht anstrahlt. In seiner Selbstvermarktung scheint er einem Rockstar oder einem Fußballclub weit ähnlicher als seine Klassikkollegen.
Mit diesen beiden Sphären hat auch seine Show mehr gemein als mit den Konzerten in den Philharmonien und Konzerthäusern hierzulande. Rieu, der selbst Geige an einem Konservatorium studiert hat, schreibt auf seiner Website: „Diese gekünstelt-feierliche Atmosphäre, die man bei manchen klassischen Konzerten vorfindet, und die viele Leute davon abhält, ein solches Konzert zu besuchen, wird man bei uns vergeblich suchen.“ Stattdessen gilt: „Mitschunkeln, mitsummen, klatschen, springen – erlaubt ist, was gefällt!“

Klassik für die Masse

Sein Publikum, eher im fortgeschrittenen Alter, erlebt sich so als Teil einer Gefühls-Gemeinschaft. Denn Rieu verkauft sich, auch das ähnlich wie ein Rockstar oder ein Fußballverein, hauptsächlich über das gemeinschaftliche Erlebnis und über Emotionen. Die werden in seinen Konzerten wie im Schnellkochtopf hochgedampft, bis sich keiner mehr der emotionalen Überwältigung entziehen kann und die Leute sich weinend in den Armen liegen. Ist doch schön, was kann man dagegen haben?!

Vielleicht liegt mein Problem damit an den effekthascherischen Mitteln, die Rieu für seine musikalische Bühnenshow verwendet: Als ob er der Kraft der klassischen Musik nicht vertrauen würde (oder der Aufnahmebereitschaft seines Publikums), schnipselt und arrangiert er an den Stücken herum, lässt Strophe und Strophe wiederholen (wie kürzlich in einer Konzerttour mit Beethovens „Ode an die Freude“) und garniert nicht selten die Orchesterfassung mit menschlichen Stimmen, Percussion oder Panflöten-Klängen. Rieu mag sich als Musikvermittler sehen, der die Klassik der Elite entreißt, sie aus der steifen Konzertsaal-Atmosphäre holt und einer breiten Masse schmackhaft macht, und in gewisser Weise gelingt ihm das auch. Aber er tut das um den Preis, die Musik zu verkitschen.



Vielleicht wird mein Unbehagen aber auch durch das Image der „Heilen Welt“ ausgelöst, die er mit seinen Musikern zelebriert, die mal in Gala-Roben, mal in holländischen Trachten auf der Bühne erscheinen. Kein Konzert ohne Dauergrinsen und schmachtende Blicke, keine Show ohne Walzermusik als klingendes Symbol einer trancehaften Tanzseligkeit. Dabei galt der Walzer noch im 19. Jahrhundert als einer der anrüchigsten Tänze Europas, und die klassische Musik hat mehr zu bieten als einfache Dur-Harmonik und „Freude schöner Götterfunken“. Es ist eine unreflektierte und sehr beschränkte Welt, die Rieu präsentiert, eine Welt ohne Abgründe, aber mit maßgeschneidertem Frack und Prinzessinnenkleidern.
Nur manchmal, da hat man das Gefühl, dass er selbst sich mit einem ironischen Spruch, mit einem schelmischen Blick von dieser Seifenoper distanziert. Man kann vermuten, dass Rieu sehr genau weiß, was er tut, und dass er es über die vielen Jahrzehnte, die seine Bühnenkarriere nun schon andauert, auch mit einer gewissen echt empfundenen Leidenschaft tut und nicht nur aus schnödem Kommerzdenken. Doch als Mensch oder gar als „Künstler“, wie auch immer man das definieren will, bleibt er hinter der immer wieder gleichen Dramaturgie seiner Shows, den immer wieder ähnlichen musikalischen Versatzstücken, der maskenhaften Mimik und seiner perfekt sitzenden Kleidung ein Phantom. Eine Projektionsfläche für sein Publikum, das sich von ihm gern betören und in eine musikalische Vergangenheit entführen lässt, die mit Sicherheit nie so heil und bunt war, wie sie hier vorgeführt wird.

Neidet ihm die kriselnde Klassik-Branche einfach nur seinen Erfolg?

André Rieu polarisiert gerade deswegen so sehr, weil er sich einer genauen Deutung und Zuordnung, glatt wie ein Aal, entzieht. Und vielleicht auch, weil ihm die kriselnde Klassik-Branche seinen Erfolg neidet. Bestens ausgebildete Künstler kämpfen um ihr existenzielles Überleben, beuten sich selbst aus für ihre Ideale, für den Dienst an der Musik. Und ein André Rieu macht mit scheinbar einfachsten Mitteln ein riesen Geschäft und lässt dabei die Klassik zu seichter Häppchen-Kost zerstäuben?
Diese Fragen werden sich weiterhin stellen, wenn man André Rieu in Aktion erlebt. Denn auch mit 70 denkt er gar nicht daran, in den Ruhestand zu gehen. Er will, so sagte er in einem Interview mit „Spot on news“, 140 Jahre alt werden. Und man glaubt es ihm, dem jung gebliebenen Geigencharmeur mit der drolligen Aussprache und den wehenden Locken. Vielleicht, wer weiß, ist ja was dran an seinem Gesundheitsrezept, das er zum Geburtstag der Berliner Morgenpost verriet: „A waltz a day keeps the doctor away.“

© Christopher Dart/flickr.com/CC BY-SA 2.0
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