Von Hannah Schmidt, 10.03.2018

Kunst und Intellekt

Muss sich eine Künstlerin immer erklären können? Muss ein Musiker Bescheid wissen über das, was seine Interpretation ausmacht – und es am besten auch noch in Worte fassen können? Nein, findet Hannah Schmidt: Denn das Kunstwerk ist größer als sein Schöpfer. Die niusic-Kolumne.

Man neigt dazu, Künstler für Genies zu halten. Steht staunend vor einem Richter-Bild im Museum, folgt mit offenem Mund der Akrobatik eines Lang Lang, verlässt aufgewühlt die Premiere einer modernen Oper, bei der der Komponist sich am Schluss höchstpersönlich auf der Bühne verbeugte. Götter! All diese Kunst könnte doch niemals so wirkungsvoll sein, wenn die Künstler durchschnittliche Normalo-Bürger wären! Innerlich stellt man sie auf marmorne Sockel, „ich könnte sowas ja nicht“, ach ja, die von der Wahrheit Geküssten.
Folgerichtig erscheint es auch hochinteressant, schon bevor man einer dieser Sagengestalten persönlich begegnet ist, einen Interpreten, eine Komponistin, eine Bildhauerin zu treffen und mit ihm oder ihr zu sprechen. Man verspricht sich mindestens druckreife anspruchsvollste Aussagen über das Wesen der Kunst, das Musizieren, das Hören und Interagieren als gesellschaftspolitische hochphilosophische, wenn nicht konkret politische Phänomene.

Sollte hinter der ganzen überbordenden interpretatorischen Genialität vielleicht – oh mein Gott – gar kein Genie stecken?

Wenn dann aber nichts dergleichen kommt, bleibt ein Interviewer recht hilflos zurück. Sollte dieser Musiker etwa – man traut es sich gar nicht zu denken – unbedarft sein? Sollte er oder sie sich etwa noch nie in seiner gesamten weltweiten Karriere Gedanken darüber gemacht haben, was er oder sie da potenziell Revolutionäres produziert, und vor allem: wie? Sollte hinter der ganzen überbordenden interpretatorischen Genialität vielleicht – oh mein Gott – gar kein Genie stecken?
Tatsächlich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ein Pianist – wie beispielsweise der mittlerweile 95-jährige Menahem Pressler – Sätze sagt, die Walter Benjamin nicht besser hätte formulieren können. Es ist ein Geschenk, wenn man eine Geigerin wie die 28-jährige Eldbjørg Hemsing trifft, die über all die klug überlegten Fragen schon jahrelang nachgedacht zu haben scheint und auf jede von ihnen mit entwaffnender Reflektiertheit antwortet. Das ist aber eine ganz vom Menschen abhängige Angelegenheit, etwas Grund-Charakteristisches.

Es kann schließlich genau so gut sein, dass ein Interpret unglaubliche Musik erschafft – und sich dieses Phänomen selbst unter Umständen gar nicht erklären kann. „Ich spiele einfach. Der Rest passiert von alleine“ ist eine Aussage, die mancher Instrumentalist genau so unterschreiben würde. Aber ist dieser Satz in irgendeiner Form weniger wert als ein wohldurchdachtes Plädoyer für die eigene Arbeitsweise? Eben nicht.
Wenn ein Künstler sich im Zuge seines Schaffens in einer permanenten Gedankenspirale befindet und das auch noch nach außen hin eloquent artikulieren kann, dann ist das viel wert für eine Journalistin oder einen Biografen, die froh sind über jedes starke Zitat. Tut eine Künstlerin das aber nicht, begreift sie unter Umständen vielleicht gar nicht, welche Kraft sie da treibt, auf der Bühne, am Instrument, mit dem Stift in der Hand – dann ist das dem Geist der Kunst geschuldet. Das Kunstwerk ist immer größer als sein Schöpfer – ob Maler oder Komponist oder Interpret oder sonst jeder, der künstlerisch schaffend tätig ist. Und wenn dieser Schöpfer selbst in die Situation kommt, dass er sich sein Kunstwerk selbst nicht mehr erklären kann, dann schmälert das weder die Genialität des Kunstwerks noch den Intellekt oder die unerklärliche Fähigkeit des Künstlers.

„Eigentlich sollte es ganz bunt werden“, sagt Gerhard Richter und zuckt mit den Schultern.

In der Dokumentation „Gerhard Richter Painting“ von Corinna Belz wird wenig geredet. Richter selbst sagt über seine Kunstwerke nicht viel bis gar nichts. Die Filmemacherin zeigt ihn unkommentiert bei der Arbeit, zeigt, wie aus zwei weißen Leinwänden zwei knallbunte Leinwände, zwei schwarze – und schlussendlich wieder zwei weiße Leinwände werden. „Eigentlich sollte es ganz bunt werden“, sagt Richter, der mit farbfleckigen orangenen Handschuhen und etwas fragendem Blick auf die vorletzte – die schwarze – Version der beiden Bilder blickt. Und dann zuckt er die Schultern.
Eigentlich ist es eine wirklich gute Arbeitsteilung: die von einer unsichtbaren Kraft getriebenen Künstler – wie reflektiert und selbsterkannt sie auch sein mögen oder nicht – auf der einen Seite, und die weltgewandten, mit Wörtern arbeitenden, intellektuell Zusammenhänge herstellenden Feuilletons. Zwischen den beiden Extremen gibt es eine reiche Welt an Ideen, an Ambitionen, an Genialitäten – und eine Fülle an Kunst, die im besten Fall über all das hinauswächst.

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© Gerhard Richter/Sharon Mollerus via flickr.com/CC BY 2.0


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