Von Malte Hemmerich, 18.07.2019

Mitternachtssonnate

Warum ist ein Musikfestival oberhalb des Polarkreises eine gute Idee? Das Lofoten-Festival findet in der schönsten und gleichzeitig wohl unpraktischsten Gegend für ein Musikfestival statt. Der Schlüssel zu all dem kann der Tourismus sein.

Es ist so typisch skandinavisch, dass es schon unwirklich scheint: Ein kleiner blonder Junge steht vor einem rot-weißen Holzhaus und verkauft selbstgemachte Waffeln. Das Geschäft läuft gut, heute Vormittag gabs schon hundert Kunden. Dabei hat das kleine norwegische Dorf Henningsvær, das malerisch an einem Bergausläufer der Inselgruppe Lofoten liegt, nur 500 Einwohner, offensichtlich Waffelfetischisten.

Spaß beiseite. Die Lösung ist natürlich: Tourismus. Wenn es hier auf den Inseln, etwas über dem Polarkreis, mal nicht regnet, scheint 24 Stunden die Sonne, es wird im Sommer nicht dunkel. Dann machen sich die Busse auf, vom Festland, aus Finnland und Schweden, oder die Schiffe der Hurtigruten spucken ihre Reisegruppen aus, die das letzte einsame, aber noch nicht unwirtliche Fleckchen ursprüngliches Norwegen erkunden möchten.

Für Knut Kirkesæther hat der Besucherstrom, wie für so viele Lofoten-Einheimische, zwei Seiten. Als er vor 15 Jahren eine lang gehegte Idee verwirklichte und mit einem Freund, dem Geiger Arvid Engegård auf der Inselgruppe ein Internationales Kammermusikfestival gründete, legte man die Festivalbasis in ein winziges pittoreskes Fischerdorf mit zweistelliger Einwohnerzahl. Hier gab es Räume zum Üben und Abgeschiedenheit. Die Künstler sollten sich nur auf die Musik konzentrieren können, die ursprüngliche Natur diente als Inspiration. Doch immer mehr Menschen erschlossen das kleine Dorf für sich, die Räume wichen Touristenunterkünften, das Festivalzentrum zog um, nach Henningsvær. Die Spielorte liegen aber weiterhin in süßen nordischen Kirchen über die Inselgruppe verteilt. Teilweise bis zu eineinhalb Stunden Autofahrt entfernt.

Die Lofoten

Scherzend kleben Musiker auf den seitlichen Kirchenbänken ihre Noten zusammen. Es sind noch fünf Minuten, bis das Abschlusskonzert des Kammermusikfestivals in der pittoresken Kirche in Buksnes beginnt. Von allen Musikern des Festivals, vom jungen dänischen Nachwuchsquartett bis zu András Schiff, die alle die gesamte Woche hier verbringen, gleich viel spielen und gleich bezahlt werden, wird auch ein gewisses Maß an Improvisation und Mut zur Lücke gefordert. So werden jetzt in diesem Konzert beispielsweise einfach alle Zugabenstücke gespielt, jeder geht dabei in die Vollen. Ob beim „Erlkönig“ mit zwölf Streichern oder der inoffiziellen Hymne der Inseln mit dem Festivalchef am Klavier.

Eine Kunstsammlung im Nirgendwo: Kaviarfactory

Musikalisch widmet sich das Festival bekannten Klassikern, kann aber auch mit seltener Gespieltem, wie dem Klaviertrio von Anton Arensky, und Mutigem wie Rebecca Clarkes Violasonate oder aber Stücken von Thomas Adès aufwarten.
Und selbst die Klassiker können neu wirken. Mit Blick durch die Fenster auf den Fjord sind die Sinne in der Kaviarfactory, einer Kunstsammlung, geschärft für Schuberts Streichquintett. Fast unheimlich spielen die Doric Quartettler den Beginn, betonen den einfachen Stil, aber bringen eine unglaubliche Schwere in den weißen Raum. Reißerische Cellostöße, Taumeln, und kein Moment ohne Anspannung. Wenn die vier Musiker, ergänzt um Soo-Kyung Hong am Cello, dann am Ende auf den Punkt auf dem gänsehauterzeugenden Vorschlag landen, hält der kleine Raum kollektiv den Atem an. Das Konzert, in dem der Klarinettist Anton Dressler zu Beginn eigene Stücke präsentiert und für Schmunzeln sorgt, indem er sein Spiel mit einer Loop-Station selbst spiegelt, ist ein Highlight. Ebenso wie das Konzert in der Lofoten-Kathedrale mit dem Trio Con Brio aus Dänemark und in der zweiten Hälfte András Schiff, der einen intelligent kopfigen Schubert spielt. Dass gerade dieses nicht gut verkauft ist, zeigt, wie wenig Namen zählen, hier am Ende der Welt.

Kirkesæther ist derweil froh, dass es nach 15 Jahren Festival endlich soweit ist, dass er nicht persönlich beim Transport der Flügel in die abgelegenen Kirchen helfen muss. Viel hat der hagere Mann probiert: Ein Winterfestival, das nicht so recht zündete, nun wechselt das Kammermusikfestival, gesponsert von staatlichen Kulturstiftungen und Unternehmen, jedes Jahr mit einem Klavierfestival, Norwegens einzigem. Das Team ist dasselbe. Engagiert, freundlich, mit freiwilligen Fahrern, die auch als Stagehands fungieren und am Rande immer über die musikalische Qualität mitdiskutieren.

„Unsere einzige wirkliche Stärke ist hier die Natur. Es braucht keine Overtüren, man muss nicht reinkommen. Wir sind alle in dieser beeindruckenden archaischen Umgebung automatisch sehr anwesend.“

Knut Kirkesæther

Natürlich ist nicht jedes Konzert Weltklasse, aber es gibt diese besonderen Musikmomente, die in Erinnerung bleiben. Und das, obwohl das Festival in diesem Jahr auf ein spektakuläres Open-Air-Konzert in einer abgelegenen Bucht verzichtet hat. Dafür trifft man endlich Einheimische, beim Frühstückskonzert, einer lustigen Musikmatinee geleitet vom urigen Bandeonisten Per Arne Glorvigen.

Hier versprühen die Musiker die Freude, die sie die ganze Zeit sichtlich begleitet. Allein schon, weil alle Beteiligten so unglaublich glücklich sind, das Beste abrufen und alle gemeinsam an der Aufgabe wachsen, hat das Lofoten-Festival seine Daseinsberechtigung und mehr noch – seinen einzigartigen Charme.

Das Lofoten-Festival

Das größte Holzbauwerk Norwegens: die Lofoten-Kathedrale

Warum also ist das Festival im Norden wichtig? An wenigen Orten der Welt findet man so glückliche Künstler. Wie in einer Kommune arbeiten die Musiker eine Woche zusammen, wechseln die Besetzungen und essen dreimal am Tag alle gemeinsam im Versammlungshaus des kleinen Fischerortes. Das schweißt zusammen, Konkurrenz undenkbar.
„Es ist total intensiv“, sagt Hélène Clément, die Bratscherin des Doric String Quartet. „Aber ich glaube, der Ort mit seiner Landschaft, der andauernden Helligkeit, sorgt für Energie. Es verändert deinen Tag komplett.“ Nur weil das Quartett danach seine Urlaubsphase beginne, sei ein solcher Workload mit täglichen Konzerten möglich. Die Konzertleistungen, die insbesondere dieses britische Streichquartett abruft, sprechen für das System.

Problematisch scheint hier tatsächlich manchmal die andere Seite: dass die Konzerte nicht ausverkauft sind. Das Publikum ist noch älter als sonst in Klassikkonzerten. Die Einwohner der Inseln sind in Dörfern zerstreut, für Touristen sind die Inseln immer noch teuer und exklusiv. Kirkesæther will das Problem mit gebuchten Gruppenreisen angehen: Auf Messen möchte man Kulturreisenden einen Lofoten-Urlaub schmackhaft machen. Und bringt gleichzeitig Musik für die Einwohner in die Gegend. Eigentlich eine gute Sache. Viele der Amerikaner, Engländer, Australier und Neuseeländer sind versierte Festivalgänger, kennen sich gut aus und lieben es, am Tag drei Konzerte zu besuchen. Doch es gibt auch wenige, die nicht vertraut mit der Musik scheinen, unruhig herumrutschen und sogar genervt stöhnen, wenn ein fünfter Satz angestimmt wird. Das bleibt eine Ausnahme, zeigt aber auch die Gefahr, klassische Musik mit diesem Anspruch und diesem Tiefgang als Teil einer Eventreise zu verkaufen.

Doch man kann hoffnungsvoll sein: Bisher gelingt der Spagat zwischen Touristenattraktion und Künstlerrefugium. „Wir werden nicht mehr wachsen" , verspricht Kirkesæther, geborener Lofoten-Bewohner. „Im Moment kann ich jedes Problem mit einem Anruf beheben, das soll so bleiben. Wir haben es geschafft, dass hier Menschen für das Festival kommen, nicht für die Künstler. Das ist einer der wichtigsten Schritte für ein Festival."
Der sympathische, sehr idealistische Mann würde wohl nie zugeben, dass er stolz ist auf dieses Mammutprojekt hier im hohen Norden. Da ist sie dann doch, die skandinavische Zurückhaltung. Sie ist selten beim Festival. Ansonsten findet man hier unglaublich viel Wärme, ein ehrliches Brennen für die Musik und das gemeinsame Projekt, zu dem jeder seinen Teil dazutut, und von dem jeder profitiert.

© Christian Winther Farstad
© Malte Hemmerich


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