Von Konrad Bott, 20.06.2019

Einfach mal machen!

Der WDR hat eine Musik-Website für Kinder ins Leben gerufen, die Klangkiste. Spiele und Wissenswertes halten sich dort die Waage. Und so simpel die Website aufgebaut scheint, so viel Arbeit steckt in ihr. Hat sich die gelohnt?

Der glasige Blick ist verbissen auf den Bildschirm gerichtet. Die Augen sind trocken und gerötet. Und aus dem halb geöffneten Mund dringt über staubtrockene Lippen ein aggressives Summen nach draußen, schwillt nervös an und ab – immer wieder. Keine Angst! Was sich wie das Symptom einer dissoziativen Störung ausnimmt, ist nur die Selbstbeschreibung eines Erwachsenen, der Flizzicato spielt. Flizziwas? Flizzicato ist eines der Spiele, die der WDR in seine neue Klangkiste gepackt hat. Eine Website, die Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren einen Zugang zu Musik verschaffen soll. Beim Flizzicato muss der Spieler durch die Dynamik der eigenen Stimme einen kleinen Pfeil durch gefährliche Parcours flitzen lassen und dabei bunte Edelsteine einsammeln. Das Prinzip Pacman – so weit so nett. Aber was hat das mit Musikvermittlung zu tun?



Eine herrliche Kakophonie

„Teilhabe ist der zentrale Gedanke“, sagt Katharina Höhne, die im Education-Programm des WDR die Klangkiste gemeinsam mit ihrer Kollegin Julia Brück konzipiert hat. „Wir können Kinder nur für Musik begeistern, wenn sie ihre eigene schöpferische Kraft dabei nutzen können.“ Indem man mit der eigenen Stimme experimentiert, wird hier ein Bewusstsein für das ureigenste Instrument, den eigenen Körper, geschaffen. Komplexer ist das Herzstück der Website, der DoReMix. Dort lassen sich den Loops der Orchester-, Chor- und Bigband-Musiker eigene Aufnahmen zuschalten. Vom eigenen Instrument über die eigene Stimme bis hin zu irgendwelchem akustischem Blödsinn: Hier können die Nutzer*innen eine herrliche Kakophonie zusammenstellen. Wer zwei- oder dreimal hinguckt, findet auch das Wappentier des WDR-Kinderprogramms wieder. „Wir hatten die Maus alle so lieb, dass wir sie unmöglich außen vor lassen konnten“, sagt Julia Brück, „aber eben nur als kleines Gimmick. Sie ist selbst sehr musikalisch, auch wenn sie keine Stimme besitzt. Die vielen Geräusche, die ihr Körper so von sich gibt, kann man wunderbar zusammenpuzzeln – niederschwellig, aber niveauvoll.“

Die Entwickler*innen Julia Brück, Katharina Höhne und Michael Kaes im Interview

Für jemanden, der mit dem 64-K-Modem aufgewachsen ist, scheint der Gedanke abwegig, dass bereits kleine Kinder mit Höchstgeschwindigkeit auf der Datenautobahn durch die Weiten des Netzes rasen. Willkommen in der Realität! Rund 40 Prozent der Sechs- und Siebenjährigen nutzen das Internet zumindest gelegentlich. Bei den Acht- und Neunjährigen sind es bereits 71 Prozent. Dabei sind die Zahlen im Vergleich zu 2017 deutlich rückläufig. Das lässt vermuten, dass Eltern ihren Zöglingen immer weniger leichtfertig Zugang zum Internet gewähren. Sie sind mehr und mehr mit den Untiefen des Netzes vertraut, mit verstörenden und betrügerischen Websites.

Der DoReMix soll besonders Lehrern aller Schulformen Unterstützung beim Musikunterricht geben. Die Möglichkeit, Schülern nicht nur verschiedene Instrumente vorzuführen, sondern sie mit der Loop-Station spielen zu lassen, wird laut Julia und Katharina begeistert aufgenommen. „Die eigene sinnliche Erfahrung des Musikmachens in einen digitalen Kontext betten zu können, ist super wichtig“, meint Katharina, „Diese sinnliche Komponente darf niemals verloren gehen, egal wie sehr sich alles digitalisiert. Dass Menschen mit Instrumenten von Hand Musik machen, die ich beobachten kann in ihrem Wirken, die mir etwas zeigen, was ich noch nicht kenne.“ Fraglich bleibt, wie gut die Schulen überhaupt mit dem digitalen Angebot arbeiten können. Der WDR selbst berichtet von einer forsa-Befragung, nach der es in deutschen Schulen nach wie vor erhebliche Defizite bei der digitalen Ausstattung und sogar dem Internet-Empfang in Schulen gibt. Wer sein Internet beispielsweise in ländlichen Regionen per Funk empfängt, bekommt statt des bunten Herzstücks DoReMix einen schwarzen Bildschirm angezeigt. „Wird geladen ...“

Bei Michael Kaes laufen die Fäden der pädagogischen und der technischen Entwicklung zusammen. „Wenn die Klangkiste einmal geladen hat“, beteuert er, „soll sie auch offline spielbar sein, da arbeiten wir gerade dran.“ Dann erklärt er, dass die Website als progressive Web-App besser auf verschiedenen Endgeräten – auch auf z.B. stationären PCs – funktioniert als eine native App. Außerdem seien sie so nicht an einen bestimmten App-Store gebunden. „Den Königsweg, der alle glücklich macht, den gibt`s da nicht“, erklärt Michael. „Es ist wirklich schwierig, die technischen Vorgaben des WDR alle unter einen Hut zu bringen, damit alles gut und sicher läuft und dabei barrierefrei ist.“ Letztendlich gehört dazu auch, dass einzelne Lastenspitzen in den Rechenprozessen das System nicht zum Abrauchen bringen. Trotz aller ernsten Bemühungen ist die reibungslose Nutzung der Klangkiste nur denen möglich, die zumindest einen vorletzten Schrei moderner Telekommunikationstechnik ihr eigen nennen.

Diskussionen, ob sich Geld- und Zeitaufwand für eine musikalische Bildung lohnen, sind zur Genüge geführt worden und lassen sich auf folgendes Ergebnis kürzen: Nein, Musik macht Kinder weder nachweislich intelligenter noch zu besseren Menschen. Ja, Musik hilft ungemein bei der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und des Kommunikationsvermögens. Und ob das jetzt Klassik ist, spielt auf der Ebene der die Klangkiste keine Rolle. Der Umgang mit einer so machtvollen und omnipräsenten Kunstform wie der Musik muss geübt werden. Kinder lernen viel über sich selbst, wenn sie Klänge organisieren. Sie lernen zum Beispiel, wie Musik Emotionen beeinflusst. Im fortgeschrittenen Alter gelingt es ihnen dann besser, mit verstörenden Klängen umzugehen. Sie haben dann eine bessere Chance zu erkennen, welche Musik wie auf sie wirkt. Das ist wichtig, denn immerhin wächst die Anzahl verfügbarer Tracks und Musikvideos täglich rasant, die tatsächlich gehört und gesehen werden.

Der Umgang mit einer solchen Macht muss gelernt werden

Die Investition in die Vermittlung von Musik ist also für eine gesunde Gesellschaft durchaus rentabel, wenn auch – wie so viel Wesentliches – schwer messbar. Deshalb ist es ebenso naheliegend wie lobenswert, dass die Klangkiste sich vorwiegend an Lehrkräfte richtet, um möglichst viele unterschiedliche Kinder zu erreichen. Ein heterogenerer Bevölkerungsdurchschnitt als der in Schulen lässt sich schwer vorstellen. Das gilt selbst in einer Zeit, in der die Schlucht zwischen privilegierten und vernachlässigten Menschen wieder erschreckend deutlich ist. Was genau die Klangkiste gekostet hat, wird trotzdem nicht verraten. „Das kann ich gar nicht sagen, weil ich es auch einfach nicht weiß“, sagt Entwickler Michael Kaes und fügt nach einer längeren Pause hinzu: „Aber wenig war`s nicht.“

© WDR/Michael Kaes
© Statista


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