Von Konrad Bott, 22.01.2019

Rage und Refugium

Musik kann entspannen und anspannen, anziehen und abstoßen – immer ist Energie im Spiel. Die sechs Stücke dieser Playlist zeigen, welche verschiedenen Ursachen Energie in Musik haben und welche Wirkungen sie hervorrufen kann.

Musik transportiert Energie auf verschiedene Arten. Was sind das für geheimnisvolle Inhalte, die uns durch ihr Zusammenspiel energisch angehen und energetisch versorgen können? Harmonien, Taktwechsel, Dynamik: All das wird durch die subjektive Wahrnehmung gefiltert und eingeordnet. Musik, die Person X als enervierend und erschöpfend empfindet, lässt Person Y sich konzentrieren, gibt ihr Kraft. Viel zu selten formulieren wir, wie sich Energie in uns bildet, wenn wir Musik hören. Wie könnte das aussehen?

Die Noten verlieren an Bedeutung

Hohe Lautstärke und hohe Geschwindigkeit, das sind die offensichtlichsten Parameter, die uns wachrütteln, treiben, in Ekstase versetzen können. Paradebeispiel: Der Tanz der jungen Mädchen aus „Le sacre du printemps" von Igor Strawinski. Eine Musik, die wesentlich weniger grazil ist, als der Titel Glauben macht. Ein Akkord, der dem Hörer unsanft eingeprägt wird, stampfend, tobend, in kuriosen Betonungen. Die Noten verlieren an Bedeutung, es bleibt der Rhythmus, die tribalistische Enthemmung, der Tanz zu Ehren des Frühlings. Das funktioniert auch ganz ohne szenische Darstellung. Die motorische Energie des Orchestersatzes springt über, lässt die Muskeln zucken. Das ganze hört Ihr hier markig umgesetzt von der MusicAeterna unter Teodor Currentzis.



Es folgt ein sprechender Titel: Gangsterism On The Rise. Knapp drei Minuten brauchen der texanische Jazz-Pianist Jason Moran und sein „Bandwagon“ für den Opener ihres Albums „Same Mother“. Der Track basiert fast ausschließlich auf dem pulsierenden Es-Mantra im Bass. Ab und an, wenn eine Salve bissiger Melodiefetzen abgefeuert zu sein scheint, schließen die Musiker die Phrase mit einer kurzen Standard-Jazz-Kadenz ab. Für Ausnahmedrummer Nasheet Waits stellt der Song ein einziges Solo dar. Mit traumwandlerischer Sicherheit nimmt er jede noch so scharfe Kurve, die er sich durch wahnwitzige Rhythmus-Gruppierungen vornimmt. Energetisch wirkt hier das ausgestoßene Adrenalin: Wann muss ich das Steuer herumreißen? Wann abtauchen? Wann Paroli bieten? „Gangsterism On The Rise“ ist, wie mit einem abgehalfterten, rostzerfressenen Wagen nach einem Bankraub zu fliehen: riskant, dreckig, ultrageil.

Die dunkle Energie eines unermesslichen Abgrundes

Ein schwarzes Loch saugt alles in seine ungewisse Düsternis hinein, was sich ihm nähert. Stimmt nicht, das ist Science-Fiction oder besser „Fiction-Science“. Sergei Rachmaninow tut das allerdings wirklich. Die Kompositionen des sensiblen Russen sind oft viel mehr als bloße Melancholie. Von manchen Fällen, wie dem Prélude op. 32 No.10, ist Menschen mit Depression beispielsweise eher abzuraten. Insbesondere, wenn dessen dunkle Energie, dieses wunderschön destruktive Locken eines unermesslichen Abgrundes, von der Pianistin Claire Huangci heraufbeschworen wird. In verzweifelter Bewegung befinden sich die vielen kräftigen Anschläge, der treibende Rhythmus und können sich doch nicht von der unaufhaltsam in die Isolation gleitenden Harmonie befreien. So entsteht nicht nur eine wundervolle Interpretation, sondern ein eigener musikalischer Aggregatzustand: vollkommene Statik, umgeben von panischer Bewegung.

Cellosuiten sind eine hochkonzentrierte Form der Komposition. Auch Benjamin Britten hat sich an dieser Gattung versucht und wahre Schmuckstücke geschaffen. Allerdings nur für denjenigen, der genug Zeit und Nerven investiert, diese ebenso kompakten wie virtuosen Werke einzustudieren. Das knackige Scherzo aus Brittens zweiter Suite wirkt energetisch in seiner Beharrlichkeit. Immer wieder und wieder sprintet der Cellist los, an der Phrase entlang, läuft ins Leere, hält inne, sprintet wieder los. Ähnlich einem Stier, der mit all seiner viehischen Ausdauer und Kraft versucht, das tanzende Tuch des Toreros zu durchstoßen. Wer eignet sich als Interpret besser für dieses Stop-and-Go als der temperamentvolle Mstislav Rostropovich?

Jetzt! Endlich! Das Nonplusultra der Energie – die Bläserfront. Das erste Stück aus Heiner Goebbels musikalischem Triptychon The Horatian erzählt vom Aufeinandertreffen feindlicher Heere der Antike. Stellvertretend für eine Schlacht sollen sich zwei durch Losentscheid bestimmte Soldaten auf Leben und Tod duellieren. Die Tragik dabei: Das Los fällt auf verschwägerte Männer, die aber aus sinnlosem Stolz das Angebot abschlagen, die Lostrommel neu zu rühren. Wie es weitergeht? Könnt Ihr dann nachgucken. Nicht nur die Spannung zwischen den verfeindeten Heeren liegt im machtvollen Satz des Stückes, auch der Trotz der beiden Krieger wird deutlich. Die Sopranistin Jocelyn B. Kelly tritt in dieser eigentümlichen Mischung aus Kunstlied, sinfonischer Dichtung und Rezitativ als Erzählerin auf – kernig, soulig und mit beeindruckend scharfer Artikulation. Ein Peak martialischer Energie, der einen vor die Entscheidung stellt: Kämpfen oder Fliehen. Weniger archaisch lässt sich die Energie von „The Horatian" gut als Wettkampf- oder Trainingsmotivation gebrauchen.

Die Abtei Sénanque

Es wird Zeit, die Energie in der Ruhe zu suchen. Dabei kommt man an einer einzigartigen Sängergruppe nicht vorbei: dem Ensemble Organum und seinem Leiter Marcel Pérès. Gegründet 1982 in der südfranzösischen Abtei Sénanque, hat sich das Ensemble vorwiegend der Musik vor 1400 und deren Aufführungspraxis verschrieben. Dabei reist Mastermind Pérès entlang der Grenze von Orient und Okzident und fördert Verschollenes zu Tage. Besonders eindrucksvoll und von hoher spiritueller Energie ist ein Kyrie Eleison aus einem Manuskript, das Pérès in der Grabeskirche in Jerusalem geborgen und rekonstruiert hat. In den Stimmen des Ensembles verschmelzen kernige Inbrunst und unverstellte Andacht zu einem meditativen Klangerlebnis. Damit überträgt das Stück eine Energie, die sich ganz und gar nach Innen richtet, sich im Hörer konzentriert, sodass er lange davon zehren kann.

© Lawrence Rayner/flickr/CC BY 2.0
© Andrea Schaffer/flickr/CC BY 2.0
© Thomas Vogt/flickr/CC BY 2.0


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.