Von Malte Hemmerich, 28.08.2018

Paradies mit Kanten

Eine malerische Burgruine über der Ägäis: Hier veranstaltet das Molyvos Festival auf Lesbos Konzerte unterm Sternenhimmel. Kein Wellness-Programm für Luxusurlauber, sondern ein kultureller und touristischer Lichtblick für die kriselnde Insel. Eine Video-Reportage von Malte Hemmerich.

Der warme Wind bläst in diesem Jahr ungewöhnlich stark über die ostägäische Insel vor der türkischen Küste. Wie gut, dass auf der Open Air-Bühne in der alten byzantinischen Burgruine so viele junge Musiker spielen, die sich auf gigantischen iPads ihre Noten anzeigen lassen. Die sind windfest, und so sind Notenklammern die Ausnahme.

Die beiden Pianistinnenschwestern Kiveli und Danae Dörken haben nun bereits zum vierten Mal Künstler, darunter viele deutsche Jungetablierte wie Benedict Kloeckner, Maximilian Hornung und Sebastian Manz, in ihre Heimatstadt Molyvos auf Lesbos eingeladen. Ein Großteil ist zwischen 20 und 30. Doch auch ein Lars Vogt und andere renommierte europäische Künstler mischen mit, auch sie sind zum Teil Wiederholungstäter. Das Molyvos International Music Festival ist und bleibt somit familiär, im wahrsten Sinne des Wortes. Neben Danae und Kiveli, die die künstlerische Leitung übernommen haben, ist Mutter Lito Dakou als unerschöpfliches Energiebündel und Geschäftsführerin an Bord. Dimitris Tryfon komplettiert das Gründerteam. Und diesem Quartett ist etwas ziemlich Einmaliges auf der Insel gelungen.
Antik Mithimna – heute Molyvos genannt– wird für vier Tage im August zum Festivalort. Die Jugendlichen aus der Kleinstadt betätigen sich als Organisatoren und Helfer. Und auf einer Insel, auf der Klassik keinerlei Geschichte und Verankerung hat, pilgern Menschen zu Kammermusikkonzerten. Auch wenn es in der Mittagsonnenhitze dazu durchaus etwas Antrieb braucht.



Doch vorerst lohnt auch ein Blick auf das, was das Festival bereits erreicht hat. Da wären zum Beispiel die modernen Kanten im Musikparadies, die sich jedoch ganz authentisch ins Programm fügen. Denn hier kennt man keine falsche Scheu. Sogar eine Uraufführung steht in diesem Jahr an. Passend zum Festival-Thema Genesis hat der griechische Komponist Kornilios Selamsis ein Schöpfungswerk geschrieben, da wird in Rihmscher Manier herumgeschabt und bis an die Grenzen der Instrumente gegangen. Das „Phoenix-Trio“ der Komponistin Kelly-Marie Murphy ist dagegen feurig, holprig und fast schon wieder Spätromantik mit Minimal-Einschlag. Doch egal, ob Milhaud, Vasks, Bach oder Operngala: Für die Leute in Molyvos ist das meiste ohnehin unbekannte Musik. Danae Dörken sieht diese vermeintliche Schwäche eines Publikums ohne musikalische Vorbildung als Riesenchance. Denn jedes Stück bekommt in diesen Ohren die gleiche unvoreingenommene Aufmerksamkeit.

Natürlich sind im Publikum auch viele europäische Besucher; eine weitere kleine Leistung des Festivals. Lesbos ist keinesfalls ein Easy Living Paradies. Im Gegensatz zu anderen griechischen Inseln waren Touristen nie so zahlreich, durch Presseberichte über die hier ankommenden Flüchtenden sind die Zahlen weiter stetig gesunken. Das Festival aber ist immer ausverkauft und kurbelt damit das Leben im Ort mit an, auch wenn das die Probleme der Insel nicht löst; noch immer ist das Lager Moria eine Sperrzone mit circa 40.000 Menschen auf engstem Raum.

In Molyvos bekommt man von all dem Elend nichts mit, die Dutzenden Restaurants der Stadt sind gut besucht, man ist ständig in Feierlaune, und das Leben beginnt immer erst gegen Mitternacht so richtig. Das freundliche Lächeln der Menschen ist so allgegenwärtig wie die Straßenkatzen. Die Dörkens scheinen es hier geschafft zu haben, das Nützliche mit dem Idealistischen zu verbinden: ein pulsierendes Festival in der Ägäis, das an sich selbst hohe Ansprüche stellt. Was kann die deutsche Kulturszene von diesem Projekt mitnehmen? Die Antwort von Lito Dakou kommt ohne Nachzudenken: Spontaneität und Offenheit. Klingt eigentlich so simpel.

Das Festival in Molyvos

Das Hauptfestival findet vier Tage lang statt. Es gibt Abendkonzerte auf einer alten Burgruine mit Blick über die Ägäis. Über den Tag verteilt spielen die Musiker des Festivals kleine Überraschungskonzerte in den Gassen der Stadt, am Hafen oder am Strand.
Eine Woche vor dem Hauptfestival gibt es Konzerte an besonders eindrucksvollen Orten auf der ganzen Insel Lesbos verteilt.

© Malte Hemmerich


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