Von Thilo Braun, 25.08.2018

Das erste Opfer der Musik

Leonard Bernstein, der charmanteste Musik-Tausendsassa des 20. Jahrhunderts, hätte am heutigen Samstag seinen 100.Geburtstag gefeiert. Im Scherz bat er einst Krystian Zimerman, an diesem Tag seine zweite Sinfonie „The Age Of Anxiety“ mit ihm zu spielen. Der hat sich daran erinnert und das Werk nun mit den Berliner Philharmonikern aufgenommen. Wir haben mit ihm über die Sinfonie und ihren Schöpfer gesprochen.

In der Öffentlichkeit gab sich Leonard Bernstein 1986 unbekümmert:

„Als ich Mitte 20 war, wurde bei mir ein Lungenemphysem diagnostiziert. Mit 35 würde ich tot sein, hieß es. Dann haben sie gesagt, ich würde mit 45 sterben. Dann mit 55. Doch ich kriege das schon hin. Ich rauche. Ich trinke. Ich bleibe nächtelang auf. Ich vögle rum. Ich habe eben an allen Fronten genug zu tun."

Der frivole Eindruck trügt. Familienangehörige und Weggefährten berichten von düsteren, depressiven Stimmungen. Kein Wunder, dass er sich in W.H. Audens Gedicht „The Age Of Anxiety“ angesprochen fühlte. Auden erzählt die Geschichte von vier verlorenen Gestalten, die sich am Ende des zweiten Weltkriegs in einer Bar treffen. Berauscht vom Alkohol kommen sie ins Gespräch, suchen Ablenkung und beklagen das Ende der guten alten Zeit. In seiner zweiten Sinfonie zeichnet Leonard Bernstein diese Geschichte einer orientierungslosen Nachkriegsgeneration musikalisch nach. Der Pianist Krystian Zimerman hat das Werk in seiner Jugend mehrmals mit Leonard Bernstein aufgeführt und es anlässlich des 100. Geburtstags Bernsteins nun auf Platte eingespielt. Einen Tag nach seinem Konzert bei den Salzburger Festspielen treffen wir ihn im Hotel. Es ist schon das dritte Interview in Folge, dabei heißt es immer, er sträube sich gegen Interviews. Davon ist nichts zu spüren: Krystian Zimerman wirkt topfit, schwärmt von Bernstein, schimpft über unfähige Musikkritiker und erzählt von gefährlichen Erfahrungen an der DDR-Grenze.

niusic: Sind Sie mal mit Bernstein an einer Bar versackt?

Krystian Zimerman: Nein, ich war ja immer mit meiner Frau unterwegs. Privat hatten wir nicht so viel miteinander zu tun, es war eine musikalische Zusammenarbeit.


niusic: Aber beim Proben sind Sie sich schon nähergekommen?

Zimerman: Wir haben gar nicht so viel geprobt. Mir war es immer zu wenig! Er konnte das Werk zusammenstellen mit einer Probe, ich habe dann immer gekämpft um mindestens drei Proben – und das war schon schwierig.

niusic: Fand er es spannender zu sehen, was aus dem Moment heraus geschieht?

Zimerman: Er wusste, er kann das. Was in den Proben und im Konzert geschah, war sowieso etwas völlig anderes. Die Proben waren mehr ein Vorschlag, wie eine Ampel in Italien.

niusic: Haben Sie auch seine zweiflerische, depressive Seite kennengelernt?

Zimerman: Im Nachhinein bastle ich mir Dinge zusammen, was gewesen sein könnte. Ich habe schon gehört, als ich „Age of Anxiety“ mit ihm gespielt habe, dass er zerrissen wurde. Aber mir war nie bewusst, dass die Kritiken so tiefe Wunden hinterlassen haben. Erst Jahre später hat mir seine Tochter Jamie erzählt, wie er darunter litt, von so vielen Leute in Amerika angegriffen zu werden.
Heute weiß ich, nachdem ich selbst tief verletzt worden bin in den letzten Jahren: Die Größe Bernsteins hat ihn nicht davor bewahrt, verletzlich zu sein.

niusic: Er hatte jedenfalls Angst, nur als Dirigent und nicht als Komponist erinnert zu werden.

Zimerman: Für mich ist er ein Teil der amerikanischen Musikgeschichte. Wenn Sie sehen, welche Programme er für Kinder gemacht hat, die Norton Lectures in Harvard, das waren Meilensteine! Da träumt man heute davon, dass das Fernsehen die Pflicht so wahrnehmen würde. Wir haben die Musik mittlerweile ja herausgeschoben aus dem Leben: Aus der Grundschule in die Musikschule, aus den Massenmedien in reine Kulturprogramme. arte ist ein Ghetto für Musik. Ich liebe es, aber eigentlich wollte ich immer, dass man mir ein Interview bei der ARD oder beim ZDF anbietet.

niusic: Trifft es nicht auch zu, dass Musiker sich ganz gerne in Fachkreisen verschanzen?

Zimerman: Ich glaube nicht, dass es so ist.

niusic: Aber öffentlich über Musik sprechen wie Bernstein, das tun ja nur wenige. Mit einem solchen Alltagsbezug!

Zimerman: Haben wir die Gelegenheit dazu? Zu mir ist in den letzten 40 Jahren kein „normaler“ Journalist gekommen und hat gesagt: Komm, wir machen mal etwas.

niusic: Haben Sie denn anders herum die Initiative ergriffen?

Zimerman: Ich habe es versucht, ja. Aber ich bin das Gegenteil von Bernstein in dieser Hinsicht. Er war eine extrovertierte Person, er kam in einen Raum mit 200 Leuten und konnte innerhalb von fünf Minuten jeden umarmen, jedem das Gefühl vermitteln, er sei sein Freund. Ich komme in einen Raum, suche mir die dunkelste Ecke und versuche, zu überleben. Das heißt nicht, dass ich Menschen nicht mag, aber mich überfordern solche Momente. Insofern ist es eigentlich erstaunlich, dass diese Zusammenarbeit überhaupt funktioniert hat.

Leonard Bernsteins „The Age Of Anxiety“

Leonard Bernstein folgt in seiner zweiten Sinfonie aus dem Jahr 1947 dem Aufbau von W.H. Audens Gedicht: In einer Bar in Los Angeles treffen vier trostlose Gestalten aufeinander. In sieben Variationen erzählen die Protagonisten von ihren Erlebnissen und Leiden, wobei musikalisch keine Entwicklung stattfindet, sondern jede Variation wie im Gespräch Motivfetzen fortspinnt.
Der Alkohol lockert die Zungen und berauscht die Fantasie, die Musik schildert in den folgenden sieben Variation „The Seven Stages“ ein wahnhaftes Schwanken zwischen Kriegseindrücken und Baratmosphäre, bevor mit „The Dirge“ ein großes Klagelied über den Verlust Gottes angestimmt wird. In Audens Gedicht singen die Gestalten ihre Klage im Taxi auf dem Weg zur Absackerparty, deren Verlauf Bernstein in „The Masque“ durch skurrile Ragtime-Elemente vertont.
Alle sind müde. Aber niemand will sich seine Kraftlosigkeit eingestehen. Die Musik kommt immer ins Stocken, stolpert zwanghaft und ungleichmäßig voran. Im Epilog bricht die Traurigkeit und Schwere auf dem Nachhauseweg über die Gestalten herein. Spätromantische Sehnsucht trifft bei Bernstein auf Sacre-artige Clusterschläge, bevor sich eine leise Hoffnung im Klavier zum Glaubensbekenntnis an eine bessere Zukunft entwickelt. Trompetenfanfaren vergolden den Hollywood-Bombast des Orchesters, ein Schluss als idealistisches Glanzlicht in dunklen Zeiten.

niusic: Warum hat sich Bernstein gerade „Age Of Anxiety“ von Ihnen zum 100. Geburtstag gewünscht?

Zimerman: Ach das war eher ein Witz. Wir haben in der Carnegie Hall in New York gespielt, und ich habe ihm erzählt, was ich noch alles machen will. Und er hat gesagt: „Wenn Dir das Werk so gefällt, dann spiel es doch mit mir auch am hundertsten Geburtstag.“

niusic: Das Werk ist eng verwoben mit der Person Leonard Bernstein. Er hat gesagt, dass der Klavierpart autobiografische Züge trägt. Spielt das für Sie eine Rolle?

Zimerman: Das ist das Schöne! Er war ein ehrlicher Mensch auch beim Komponieren. Er hat aus der Seele geschrieben und es war ihm scheißegal, ob es zur Mode passt. Man muss sich diese Zeit vorstellen: Zwei verheerende Kriege, eine Atombombe, die benutzt wurde. Die Angst der Menschheit danach, weil ja beide Seiten noch die Bombe hatten und niemand wusste: Wie geht es weiter?

niusic: Hat Bernstein Ihnen verraten, welche Geschichten im Klavierpart versteckt sind?

Zimerman: Nein, nicht direkt. Ich bin zwar immer mit tausend Fragen zur Interpretation gekommen. Aber er meinte dann: Ich habe das nur geschrieben. Wie Du das spielst, ist Deine Sache.

niusic: Sprechen wir über den Beginn des Werks. Da spielen zwei Klarinetten diese melancholischen, fast verlorenen Melodien ...

Zimerman: ... das sind die Scherben des Krieges. Die traurigen Klarinetten, die beschreiben, was sie sehen ...

niusic: ... und dann setzt das Klavier ein mit einem strahlenden Dur-Akkord! Ein trotziges Lächeln?

Zimerman: Hoffnung ist im ganzen Stück! Aber diese Maske ist nur teilweise lustig, es ist auch viel Sarkasmus dabei. Ein teuflisches Gelächter! Die Protagonisten im Gedicht von Auden sind ja zugedröhnt und besoffen und versuchen, ihre Wunden zu verarbeiten.



niusic: Eine orientierungslose Gesellschaft, die sich ablenkt durch Partys und Alkohol, ohne Zukunftsvision – sehen Sie da Parallelen zur Gegenwart?

Zimerman: Natürlich! Ich sehe, dass die jüngere Generation die Proportionen verliert. Es ist sicher sehr viel nicht richtig, und daran müssen wir arbeiten. Aber die Jugend weiß nicht mehr, dass man an der Mauer schwangeren Frauen in den Rücken geschossen hat. Da sind Dinge passiert, die niemals in einer menschlichen Gesellschaft passieren dürfen! Ich musste diese Grenze ja jedes Mal passieren, wenn ich für Konzerte in den Westen wollte. Einmal ist mir das Auto kaputt gegangen. Und da musste ich das Auto schieben und wurde mit Maschinengewehren in den Rücken gedrückt, damit ich schneller gehe. Das ist nur ein paar Jahre her!

niusic: Gibt das Werk von Bernstein Antworten, was in einer solchen Lage zu tun ist?

Zimerman: Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe des Werkes ist, Antworten zu geben. Es ist ein Stück Musik, was ein relativ junger Mann geschrieben hat, damals war er ja 29. Wir müssen nichts hineinprojizieren.

niusic: Aber es war für Bernstein ein Lebensthema! Am Ende des Werks habe ich schon das Gefühl, dass er versucht, uns einen gewissen Idealismus einzutrichtern.

Zimerman: Aber das Werk ist ja nicht am Ende des Lebens geschrieben worden.

niusic: Das Werk ist jedenfalls über weite Strecken traurig. Und da wirkt dieser jubilierende Schluss für mich beinahe drangeklebt.

Zimerman: Ich finde es nicht jubilierend. Man schaut in den Himmel! Und ich muss sagen, ich habe Tränen in den Augen, wenn ich das Ende höre. Das ist unglaublich gut gemacht. Vielleicht schon etwas in Richtung Hollywood – aber im positiven Sinne.

niusic: Sie kaufen Bernstein diesen Freudentaumel ab?

Zimerman: Das ist kein Freudentaumel. Das ist Hoffnung!



niusic: Wie in anderen Werken Bernsteins spielt auch bei „Age Of Anxiety“ der Glaubensverlust eine wichtige Rolle. Verliert unsere Gesellschaft das Rückgrat, wenn der Atheismus Überhand gewinnt?

Zimerman: Glauben die Leute wirklich nicht? Ich finde religiösen Fanatismus viel schlimmer – und ich spreche hier nicht nur von radikalen Islamisten. Wenn wir mit unserem Glauben andere ausgrenzen, dann hat es weniger mit Glauben zu tun als mit einer Mafia.

niusic: Aber eine gewisse Identität brauchen wir ja schon?

Zimerman: Sie wagen sich in sehr gefährliche Gewässer. Und da muss ich sicher sein, dass wir uns richtig verstehen. Das sind unglaublich tiefe Themen, und die kann man in fünf Minuten nicht besprechen oder beschreiben.

niusic: Ich denke aber, dass die Musik von Bernstein uns zwingt, über solche Fragen nachzudenken.

Zimerman: Aber wir stellen hier keine Fragen, sondern versuchen, Antworten zu finden! Ich probiere nicht, der Musik etwas anzuhängen.

niusic: Trennen Sie Ihre politische Haltung und das Werk?

Zimerman: In dem Moment, wo ich das Werk spiele, bin ich kein Politiker. Wenn ich normal auf der Straße rumlaufe, bin ich auch kein Politiker, dann bin ich Bürger. Und als Bürger habe ich eine Verantwortung und auch keine Angst, den Mund aufzumachen. Ich hatte keine Angst vor dem KGB oder der CIA, ich glaube nicht, dass man mich schnell erschrecken kann.

niusic: Sie spielen gerne Konzerte in Universitäten. Liegt Ihnen ähnlich wie Bernstein am Herzen, ein junges Publikum an die Musik heranzuführen?

Zimerman: Wir sind natürlich ganz unterschiedliche Typen. Ich habe Probleme mit den Medien, bin nicht gut vor der Kamera und lehne sogar jede Masterclass ab. Das läuft ja immer so ab, dass ein Pianist den Leuten zeigt, wie genial er und wie dumm der Student ist. Mir geht es eher darum, wie ich meinen Studenten helfen kann. Manchmal sind das völlig unspektakuläre Sachen. Ich musste einmal mit einer Studentin über ihre Beziehung sprechen, weil das der Grund war, warum sie gehemmt war. Ich habe mit einem anderen Studenten Gummiplatten an die Wand seiner Wohnung geklebt, denn die Akustik stimmte nicht. Und mit jedem Studenten habe ich einen Flügel gekauft. Wir haben alte ausrangierte Instrumente von Steinway in Orchestern gefunden und manchmal für zwei-, manchmal für fünftausend D-Mark gekauft. Das waren Summen, die sich auch Studenten leisten konnten. Und im Anschluss haben wir an der Klaviatur gebaut, bis wir einen Konzertflügel hatten.

niusic: In einem anderen Interview haben Sie mal gesagt, Sie lieben Jazz. Das Scherzo kurz vor Schluss mit seinen skurrilen Ragtime-Elementen scheint Ihnen sichtlich Spaß gemacht zu haben im Konzert.

Zimerman: Das muss Spaß machen! Es ist eine verrückte Jagd, die im totalen Chaos endet. Und das muss der Künstler in der Lage sein, glaubwürdig darzustellen. Ich spiele auch Jazz, ja. Ich habe überhaupt Mühe, das Wort „klassische Musik“ zu erklären. Ist Mozart klassische Musik? Wusste er damals, dass er ein klassischer Musiker ist?



niusic: Zumindest war es für Bernstein ein Problem, dass Jazz in der Klassik-Szene so stiefmütterlich behandelt wurde. Spüren Sie diese Diskrepanz auch?

Zimerman: Jazz ist ein Teil der amerikanischen Musikgeschichte. Ich sehe hier wirklich nicht die Grenze zwischen den Polen und suche sie auch nicht. Die Musik von Art Tatum oder Oscar Peterson ist für mich genauso genial wie manche Mozartsonaten.

niusic: Warum spielen Sie trotzdem nie öffentlich Jazz?

Zimerman: Man muss wissen, was man kann. Und ich glaube nicht, dass ich da besser bin als Oscar Peterson. Ich mache es gerne für mich, aber nicht öffentlich. Glaubwürdigkeit als Künstler ist sehr wichtig. Das war übrigens bei Bernstein enorm ausgeprägt. Ich habe immer meinen Studenten gesagt: Wir müssen die ersten Opfer der Musik sein.

niusic: Was meinen Sie damit?

Zimerman: Ich muss inspiriert werden von der Sonate, die ich spiele. Wenn das nicht mehr zutrifft, muss ich etwas anderes spielen – oder gar nicht mehr. Versuchen Sie mal, ein Konzert aus diesen Gründen abzusagen! Dann werden sie vom Kritiker als der launische Künstler zerrissen, der sein Konzert abgesagt hat. Ich will niemanden provozieren. Aber ich habe alle Orte gestrichen, wo ich gespürt habe: Das sind Spannungen, die nicht gesund sind.



© Unitel
© DG/Bartek Barczyk


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