Von Hannah Schmidt, 06.05.2018

Rezensiert! Mehr!

Warum werden in den großen Feuilletons so selten Klassik-CDs rezensiert – selbst wenn wirklich originelle und neuartige Exemplare darunter sind? Ein Plädoyer für das Vertrauen in die Verblüffung.

Es ist Zeit, einmal verbal auf den Tisch zu hauen. Jedes Jahr erscheinen über 20.000 neue Tonträger in Deutschland. Knapp 4.200 davon waren im Jahr 2017 Klassik-CDs. Ein Fünftel! Das sind pro Tag knapp zwölf Alben – von denen aber so gut wie keins in einem der großen Feuilletons jemals besprochen wird. Von der klassischen Konzert-Rezension wegzugehen, mit der Argumentation, diese Konzerte könne man nie wieder hören, warum solle man es dann lesen, hat sich unter allgemeinem Nicken irgendwie durchgesetzt.

Eine CD kann man ein Leben lang hören – der Service ist gegeben.

Es geht um Service – eine Oper kann man nach der Premiere noch ein paar mal sehen, ein Theaterstück auch, und einen interessanten Künstler, der dann aber optimalerweise in mehr als nur diesem einen Konzert zuvor gehört worden ist. Eine CD hingegen, ob digital oder als Scheibe, die man anfassen kann, kann man, wenn es gut läuft und man drauf aufpasst, ein Leben lang hören. Sie sind wie Visitenkarten junger Debütanten, überraschende Wendepunkte im Bild eines etablierten Künstlers, Statements, die einen im besten Fall interessanten Beitrag zur Musik- und Rezeptionsgeschichte liefern.

Im Pop werden CDs selbstverständlich in diesem Sinne wahrgenommen. Sie zu rezensieren, gehört dazu: Jeden Monat die besten Pop-Erscheinungen, zwischendurch mal was Interessantes von Ihm oder Ihr, Sänger X geht auf Tour, schauen wir uns das aktuelle Album noch einmal an. Die größere Reichweite von Popmusik ist sicherlich ein Grund – nur ist Journalismus und vor allem Kulturjournalismus doch kein Unternehmen im Interesse der Musikindustrie! Dass viermal so viele Pop-Alben erscheinen, sie größeren Umsatz bringen und häufiger gekauft werden, bedeutet nicht, dass ein Klassik-Album deshalb auch für den Leser weniger interessant ist – oder sein könnte! Sogar Menschen, die es sich vielleicht sonst nicht angehört oder sich nicht mit der Musik beschäftigt hätten, dürfen erfahren, was einen Musikjournalisten begeistert.

Das flirrende Schwarzweiß zwingt den Betrachter in optischer und haptischer Verwirrung zur bedingungslosen Konzentration.

Würde ein x-beliebiger Pop-Künstler ein Album raushauen wie Anfang des vergangenen Monats die junge Cembalistin Elina Albach, wäre das sicherlich für einige ein Grund gewesen, ihn oder sie zum großen Interview einzuladen über die Zukunft des Mediums „physische CD“. Nur ist nicht ein etablierter Pop-Künstler auf die Idee gekommen, Musik unterschiedlicher Epochen – oder: frühere und aktuelle Werke – einander gegenüber zu stellen und zu kombinieren mit von einem bekannten Schauspieler gelesenen Gedichten über das Thema Zeit, Vanitas, Ästhetik, Veränderung.

Das Ganze ist eingepackt in einen von einem Künstler designten Umschlag, der sich beim Öffnen verändert, dessen raue Oberfläche und flirrendes Schwarzweiß den Betrachter in optischer und haptischer Verwirrung zur bedingungslosen Konzentration zwingt. Und das Booklet! Es besteht nicht aus einem Text, der erwartbarerweise die Werke und Elina Albachs Blick auf sie erklärt, sondern das als beinahe schon kleines Buch daherkommende Heft vereint philosophische, essayistische und wissenschaftliche Abhandlungen zum Thema des Albums. Was dazu kommt: Die Zusammenstellung der Musik aus dem 16. und 20./21. Jahrhundert ist eine der erhellendsten, die es auf dem aktuellen Markt so gibt – und die Werke sind fantastisch musiziert.

Vertrauen wir unserer Verblüffung! Unserer Begeisterung!

Das Album „Traumwerk“ von Albach und dem Ensemble Continuum ist nur ein beliebiges aus den vergangenen Wochen herausgegriffenes Beispiel, das eine Entwicklung zeigt, die der Musikjournalismus versuchen sollte umzulenken: Vertrauen wir unserer Verblüffung! Unserer Begeisterung! Unserer Fähigkeit, sie in Worte zu fassen! Wenn irgendwann auf vier Pop-Renzensionen eine Klassik-Rezension kommt, hat sich der Himmel aufgetan.


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