Von Hannah Schmidt, 06.06.2017

Das Bachputten-Paradox

Den Brühler Schlosskonzerten eilt ihr Ruf voraus, „eh immer ausverkauft“ zu sein. Doch etablierte Konzertformate wie das in Brühl stehen mittlerweile vor dem Problem, eben nicht mehr genug Publikum anlocken zu können. Ein Gespräch mit dem künstlerischen Leiter Andreas Spering über die Veränderungen des Konzertlebens in unserer Zeit.

Es sind die mittlerweile klassischen Probleme, aus denen sich wohl jedes Haus, jedes Festival irgendwie herauszuwinden versucht: schrumpfende Besucherzahlen, veraltetes Publikum, zunehmende finanzielle Probleme. Wie gehen die Brühler Schlosskonzerte, eine der etabliertesten Konzertreihen Deutschlands, damit um?
22 Jahre hat Andreas Spering schon seine „Doppelfunktion“, wie er sie nennt, bei den Konzerten im prunkvollen Brühler Schloss inne: Einerseits stellt er das Konzertprogramm zusammen, andererseits ist er an etwa einem Viertel der Konzerte als Dirigent selbst beteiligt. Beim Eröffnungskonzert der 59. Schlosskonzerte im Mai geleitet er seine Capella Augustina durch ein reines Mozart-Programm. Alle Karten sind verkauft, die Plätze sind besetzt, auch die ganz ungünstigen unter der Treppe. Das Publikum ist kultiviert, fein gekleidet und überwiegend weißhaarig. Niemand klatscht zwischen die Sätze, es klingelt kein Handy, es wird nicht einmal gehustet. In der Pause stehen alle brav an, niemand drängelt. Man trinkt Weißwein.

„Wir versuchen mehr und mehr junge Menschen, also eigentlich ‚Mid-Ager‘ zwischen 20 und 40 Jahren, anzusprechen.“

Andreas Spering

Ausgelastet sei das Festival inzwischen bei weitem nicht mehr zu 100, sondern eher zu „85 bis 88 Prozent“, sagt Spering im Interview. Als er anfing, vor 22 Jahren, „war es immer ausverkauft“. Die Zahl der Kartenkäufer, die Zahl der Besucher nehme seitdem jedoch latent ab, „die Konzerte vollzukriegen ist kein Selbstläufer mehr“. Deshalb versuchen die Brühler, „mehr und mehr junge Menschen, also eigentlich ‚Mid-Ager‘ zwischen 20 und 40 Jahren, anzusprechen“, sagt Spering. Aber das sei schwierig, denn es gebe in dieser Generation „große Berührungsängste“ mit dem Gegenstand der klassischen Musik.

Tatsächlich trägt der Raum, in dem die Schlosskonzerte stattfinden, in nicht geringem Maß zu diesen Berührungsängsten bei – und das wird jeder nachvollziehen können, der ihn einmal betreten hat. „Selbst ich bin auch nach 22 Jahren noch jedes Mal völlig erschlagen, wenn ich nach einem halben Jahr Pause wieder in diesen Saal reinkomme“, sagt Spering. „Das ist wirklich unglaublich.“
Gemeint ist das von 1740-46 entstandene Treppenhaus von Schloss Augustusburg, entworfen von Star-Architekt Balthasar Neumann, ein Meisterwerk des Barock: bunt bemalt, mit vergoldeten und verschnörkelten Treppengeländern, einer hohen Kuppeldecke, mit Fresken wie in einer katholischen Kirche. Götter, Könige und mythische Figuren thronen an jeder Ecke, als aus den Säulen erwachsende Statuen aus Marmor, dick golden gerahmt im Überformat an der Wand oder als barockes Gemälde an der Decke. Ein Ort, an dem keine Fotos gemacht werden dürfen. Purer Prunk.

Als Andreas Spering vor einigen Jahren hier Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ aufführte, blieb es das einzige Mal: „Das war ein echter Clash, einfach eine Spur zu viel“, sagt er heute. Neben seiner architektonischen Überfülle sei der Raum aber auch akustisch schwergängig, „wie auch jede größere Kirche, überakustisch“: „Das schränkt die mögliche zu spielende Literatur natürlich ein.“ So wählt er das Repertoire für jedes Schlosskonzert-Programm dem Raum und der Akustik entsprechend, „und ich versuche dabei, jedes Jahr aus den gespielten Konzerten zu lernen“.

Der Ort ist museal, ein begehbares Denkmal – aber tut das der Musik gut, die darin gespielt wird?

Der Raum ist einerseits Aushängeschild der Schlosskonzerte, andererseits scheint er aber auch eine mögliche Veränderung des Publikumsprofils zu bremsen. Welche Menschen besuchen denn das Schloss? Vor allem Touristen sind es, die durch den großangelegten Garten flanieren und Selfies oder schicke Hochzeitsfotos vor der Schlossmauer schießen.
Der Ort ist museal, ein begehbares Denkmal – aber tut das der Musik gut, die darin gespielt wird? Sind die pastellfarbenen Bachputten an der Saaldecke, die verschnörkelten Goldhandläufe an der Treppe nicht vielmehr ein Rahmen, der das Gezeigte versteinern lässt, denn eine Umgebung, die die Musik lebendig werden lässt? Dieser Raum ist tatsächlich so dominant, dass er das, was er rahmt, ja sogar selbst bestimmt! Kommen die Gäste tatsächlich, um Mozart zu hören? Oder kommen sie, um im Brühler Schloss zu sein, egal, was dort gespielt wird?

Der Abozyklus der Schlosskonzerte läuft sicherlich zu einem Großteil nach letzterem Schema – deshalb funktionierte jahrelang auch ein „zu beliebiges, zu austauschbares“ musikalisches Programm, wie Spering sagt –, und dieser Zyklus ist momentan noch eine der finanziellen Stützen. Immer wieder habe Spering überlegt, den Abozyklus abzuschaffen und das Profil der Schlosskonzerte ganz neu zu zeichnen. „Aber finanziell gesehen wäre das einfach dumm.“ 2008 begann er, mit dem an die Schlosskonzerte angedockten Haydn-Festival diese Profilschärfung zwar vorzunehmen, indem er sie aber zunächst einmal auslagerte.

Andreas Spering

Haydn-Festival und Historische Aufführungspraxis

„Ich hege schon immer eine große Liebe zum Werk Haydns“, sagt Spering, „und er ist in der Konzertwelt einfach wahnsinnig unterrepräsentiert, es gibt kaum Festivals, die sich ihm widmen.“ Er arbeite dagegen, will auch in Zukunft weiter in diese Richtung gehen, weiter auch auf seinem Steckenpferd, der Historischen Aufführungspraxis. „Ich glaube, dass dadurch, wie wir die historischen Instrumente spielen, die Musik durchlässiger wird, leichter zu hören, knackiger, sie klingt einfach nicht mehr so wolkig. Ich glaube, das baut auch Hürden ab.“ Gleichzeitig sei das Haydn-Festival „mittlerweile ein echtes Alleinstellungsmerkmal der Schlosskonzerte“, sagt Spering – und es scheint sich auch zu rechnen, das Festival sei gut besucht.

„Die öffentliche Hand bleibt im besten Fall auf dem Niveau, auf dem sie ist, mit Erhöhungen ist da nicht zu rechnen.“

Im aktuellen Programm der Brühler Schlosskonzerte finden sich Konzerte mit Titeln wie „Klassik rockt“ oder mit dem Schwerpunkt auf Saxofonmusik. Ein Versuch, die genannte „jüngere“ Generation anzulocken – aber muss es so anbiedernd sein? „Ja, das ist anbiedernd“, sagt Spering. „Aber ist Werbung nicht immer so, muss sie das nicht sein?“ Irgendwie müsste man einen Mittelweg finden, die „Alten“ nicht vergraulen und die „Neuen“ trotzdem interessieren. Das Patentrezept gibt es in Brühl scheinbar noch nicht, Sperings Lösung lautet: „Wir müssen die Werbung anders gestalten, ein anderes Programm bieten, um ein Publikum anzusprechen, das nicht unbedingt in dieses Schloss hier gehen würde.“ Gelungen sei ihm das mit dem Vermittlungsformat „Bach um Vier“, das er 2013 veranstaltet hatte, in dem er Bachkantaten aufführte und erklärte. „Da waren viele Leute der Zielgruppe da, die wir ansprechen wollten.“
Wie sehr sich eine Profilschärfung, die dem Festival zu größerer Reichweite, zu einer längeren Lebensdauer verhelfen könnte, finanziell umsetzen ließe, bleibt derweil eine andere Frage. „Es wird zunehmend schwieriger, private Sponsoren zu bekommen“, sagt Spering. „Und die öffentliche Hand bleibt im besten Fall auf dem Niveau, auf dem sie ist, mit Erhöhungen ist da nicht zu rechnen.“

Die Capella Augustina

Musikalisch merkt man dem Festival im Konzert an dem Mai-Sonntag nicht an, wie viel Herausforderung gerade im Hintergrund wächst. Die kleine Capella Augustina macht beim Zuhören richtig Spaß, in der Besetzung mit ausschließlich historischen Instrumenten, jungen Musikern und einer wirklich beispielhaft unterhaltsamen 15. Mozart-Sinfonie in G-Dur ist Feuer, ist Drive in der Musik, und die schwierige Akustik meistern die Musiker nicht ohne Anstrengung, aber souverän.

Eigentlich, denkt man sich beim Zuhören, müsste man doch gar nicht viel mehr machen, als Ensembles wie diesem eine Öffentlichkeit zu geben. Dann müsste es doch von alleine laufen. Nur tut es das nicht. Nicht die Musik ist das Problem, sondern der Rahmen, in dem sie aufgeführt wird, und zwar schon seit Jahrhunderten. Der Rahmen, der Menschen das Gefühl gibt, es verändere sich nichts. Sei es ein barockes Schloss als Aufführungsort, ein austauschbares Konzertprogramm, ein Konzerttitel, der Vertrautes verspricht.
Brühl geht mehr und mehr in die Richtung, diese Rahmen aufzubrechen. Vielleicht funktioniert das Haydn-Festival irgendwann auch ohne die bekannten Klassikschlager, die „ziehen“, und ohne die Angst, das nach Vertrautem suchende Stammpublikum zu vergraulen. Der Weg dahin ist noch ziemlich weit, aber er kann auch sehr spannend werden.

© Nikolai Wolff
© Alexander Gurdon


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