Von Christopher Warmuth, 16.03.2018

Kreativer Kontrollverlust

Franziska Hölscher steht kurz vor einer Uraufführung. Es ist ein Werk aus dem Jahr 1968 von Wolfgang Rihm, das er nicht veröffentlichte. Hölscher ist die Art von Musikerin, die ihren Beruf als Berufung versteht. Im Interview erzählt sie davon, wie gelassen sie sein kann, wie fordernd sie gegenüber sich selbst ist und wohin sie sich entwickeln will.

Franziska Hölscher durchbohrt einen mit ihrem Blick. Sie fixiert ihr Gegenüber und kreiert dadurch eine beinahe unheimliche Nähe. Wenn Hölscher über Musik spricht, dann sitzt jedes Wort an der richtigen Stelle, sie fordert sich im Gespräch heraus. So unbeirrbar ihr Blick auch ist, angespannt ist sie nicht. Ihre Bewegungen verraten, dass sie in sich ruht. Es ist rätselhaft, denn in knapp drei Wochen führt Franziska Hölscher bei den „Movimentos Festwochen“ in Wolfsburg ein Stück von Wolfgang Rihm auf. Der Komponist wird anwesend sein, und bisher haben beide nicht über das Stück gesprochen. „Concertino für Violine und Streicher“ ist ein ungespieltes Jugendwerk Rihms – es ist eine historische Uraufführung. Das Stück liegt in ihren Händen. Hölscher ist die Art Musikerin, die sich wohl nie zurücklehnt, nicht einmal heimlich. Sie treibt sich selbst an.



niusic: Was würde im Koalitionsvertrag stehen, wenn Franziska Hölscher den Kulturteil geschrieben hätte?
Franziska Hölscher: Es würden nur Dinge dort stehen, die den gemeinschaftsstiftenden Charakter von Kultur unterstreichen. Kultur ist kein rein ästhetisches Vergnügen ...

niusic: Was wären konkrete Änderungsmaßnahmen?
Hölscher: Es wäre mir ein Anliegen, dass wir jungen Künstlern, die noch nicht etabliert sind, Auftritte ermöglichen.

niusic: Geht es um die reine Chance des Konzertes?
Hölscher: Erst einmal: Ja. Der Musikbetrieb wirkte auf mich, als ich jung war, beinahe hermetisch abgeschlossen. Ich hatte großes Glück, dass einflussreiche Leute an mich geglaubt und mich unterstützt haben. Aber ich kenne genügend exzellente Künstler, die gegen Wände laufen.

niusic: Was wäre die Aufgabe, die daraus erwächst?
Hölscher: Dass Veranstalter sich mehr trauen. Allerdings gibt es auch bereits viele, die wagemutig sind. Mehr Mut zur Mischung zwischen etablierten Stars und dem Wagnis. Ich versuche das auch selbst und verbürge mich für den sogenannten Nachwuchs – und bisher bin ich in meiner Intuition voll bestätigt worden.

niusic: Sie scheuen sich nicht, mit Veranstaltern in den Dialog zu gehen ...
Hölscher: Ich habe Respekt, aber Heiligkeiten sind mir fremd. Ich denke, wir kämpfen alle für die Musik, und selbst die größten Stars sind Menschen. Wenn wir alle, die im Kulturbetrieb arbeiten, uns zu wichtig nehmen, dann begehen wir einen Grundfehler. Wir müssen demütig sein ...

niusic: Demütig gegenüber wem?
Hölscher: Gegenüber der Musik. Gegenüber den Komponisten.

niusic: Anfang April bringen Sie ein Werk von Wolfgang Rihm zur Uraufführung. Das ist eine seltsame Sache, weil das Stück bereits 1968 geschrieben wurde, aber jetzt erst aufgeführt wird. Es ist eine historische Uraufführung ...
Hölscher: Es ist unfassbar spannend, dass ich die Chance habe, dieses Jugendwerk von Rihm im Rahmen des Porträtkonzerts aufzuführen.

Franziska Hölscher – zurückhaltend, demütig, selbstfordernd

Sie treibt sich selbst vor sich her. Zufriedenheit? Fehlanzeige. Ihr Wille, über sich selbst hinaus zu wachsen, ist ihr Antrieb, der ihr das Pensum vorgibt. 1999 machte Franziska Hölscher auf sich aufmerksam, als sie im Alter von 17 Jahren den 1. Preis beim internationalen Rundfunkwettbewerb in Prag erhielt. Zwei Jahre später lernte sie Martha Argerich kennen und widmete sich seitdem gemeinsam mit ihr der Leidenschaft Kammermusik. Weitere Partner im intimen Genre sind Andreas Ottensamer, Kit Armstrong, Martin Helmchen, Severin von Eckardstein, Nils Mönkemeyer, Marie-Elisabeth Hecker, Maximilian Hornung, Christian Poltéra und Julian Steckel. Eine ebenso enge Freundschaft wie künstlerische Zusammenarbeit verband sie mit dem Autor Roger Willemsen. Im Konzerthaus Berlin kuratiert Franziska Hölscher ihre eigene Reihe „Klangbrücken“, die im Mai zum siebten Mal stattfindet. Der Fokus liegt dort auf der zeitgenössischen Musik. Getreu ihrem Motto: mehr Mut zur Vision.

niusic: Kennen Sie Wolfgang Rihm?
Hölscher: Mein Vater war mit ihm als „Fellow“ am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Da war ich fünfzehn Jahre alt und habe dort auch relativ unbedarft Konzerte gegeben. Ich bin gar nicht sicher, ob Herr Rihm sich daran noch erinnert. Und vor ein paar Jahren habe ich in seinem Beisein beim „Heidelberger Frühling“ ein Stück einer seiner Schülerinnen uraufgeführt.

niusic: Aber Sie hatten auch jetzt im Rahmen der Vorbereitungen zur Uraufführung keinen Kontakt zu ihm?
Hölscher: Der Dirigent Peter Tilling steht mit ihm in sehr engem Austausch. Dank dieser Verbindung entstand auch die Idee, das Stück in Wolfsburg aufzuführen.

niusic: Es kann also sein, dass Sie Herrn Rihm das erste Mal wieder nach dem Uraufführungs-Konzert treffen?
Hölscher: Ja.

niusic: Das klingt angsteinflößend.
Hölscher: Ich bin da entspannt. Komponisten sind sehr gütig, wenn es um ihre Werke geht.

niusic: Sie haben bereits Rihms Stück „Duo Concerto“ (2015) aufgeführt. Es ist ein reifes Werk, steht also zeitlich im Kontrast zur jetzigen Uraufführung „Concertino für Violine und Streicher“ (1968). Was ist das frühere für ein Werk?
Hölscher: Ein Virtuoses und Musikantisches. Es war der ausdrückliche Wunsch von Wolfgang Rihm, dass in Wolfsburg neben seinen beiden Uraufführungen noch zwei Stücke von Carl Philipp Emanuel Bach gespielt werden. Und das passt genau! Das „Concertino“ ist von neobarocken Elementen durchzogen. Es ist von jugendlichem Esprit – im positivsten Sinne – geprägt.

Movimentos Festwochen Wolfsburg

„Ich bin keine statische Künstlerin. Und vor allem will ich weniger Geigerin sein. Ich will mehr Musikerin werden. Das klingt nach einem feinen Unterschied. Der ist aber entscheidend.“

Franziska Hölscher

niusic: Wo sind Sie mehr gefordert, bei Alter oder bei Neuer Musik 107 ?
Hölscher: (lacht) Das lässt sich pauschal nicht sagen.

niusic: Ist der Druck bei Alter oder bei Neuer Musik größer, dem Komponisten gerecht zu werden?
Hölscher: Für mich bei Alter Musik. Wenn ich ein Stück von Johann Sebastian Bach spiele, dann lastet die Vergangenheit auf mir. Ein Stück aufzuführen, das so alt ist, bringt ja auch meistens die Last der Rezeptionsgeschichte dieses Werkes mit sich.

niusic: Es gibt Menschen, die sich nicht gerne einer Last aussetzen ...
Hölscher: Ich bin da anders. Ich bin selten zufrieden. Ich liebe Bewegung und versuche, Stillstand zu vermeiden. Ich will Fragen stellen und mich entwickeln. Darum geht es ja irgendwie.

niusic: Ist das der Grund, warum Sie Musik machen?
Hölscher: Es ist sicherlich ein Grund. Aber schwerer wiegt, dass es diese Momente gibt, in denen man all diese Hürden vergisst. Von diesen Momenten zehre ich. Dann weiß ich, warum ich das alles mache.

niusic: Wann war das zuletzt?
Hölscher: (Pause) Mir ist es vergangene Woche gleich zweimal passiert. Ich habe zusammen mit Katja Riemann und Marianna Shirinyan ein Gedenkkonzert in Mannheim für meinen guten Freund Roger Willemsen gegeben. Das war in der familiären Atmosphäre seines Festivals ein ganz berührender Moment. Da habe ich gespürt, dass die Musik, gepaart mit seinen wunderbaren Texten, das Publikum, das ihn ja selbst kannte, sehr bewegt hat.

niusic: Und das zweite Konzert?
Hölscher: Das war zusammen mit Kit Armstrong. Da haben wir Barockmusik gespielt – Heinrich Ignaz Franz Biber und Johann Sebastian Bach. Dort entstand auf einmal dieser spezielle Moment.

niusic: Was passiert da?
Hölscher: Das ist schwer zu beschreiben. Ich spüre dann nur noch die Kraft der Musik, die mich trägt und mitreißt.

niusic: Kontrollverlust?
Hölscher: Ja. Das gehört dazu. Dass man nicht mehr kontrollieren kann und will, was man macht. Das ist Musik. Dann stelle ich mich nicht vor das Werk. Das darf nicht passieren.

niusic: Kommen Sie. Sie müssen doch als Geigern das Werk interpretieren, das funktioniert nicht ohne Sie.
Hölscher: Da haben Sie völlig Recht. Aber es darf niemals Antrieb sein. Sich zu kontrollieren und zu präsentieren steht in völligem Kontrast zur Musik.

niusic: Aber man will ja Ihre Interpretation hören und keine Maschinenmusik.
Hölscher:Im allerbesten Fall hört das Publikum, wenn ein Künstler spielt, den Menschen dahinter.

niusic: Jetzt widersprechen Sie sich ...
Hölscher: Nein. Es geht um den Antrieb. Man darf es nicht wollen, aber dann wird es glücklicherweise passieren. Wenn ich völlig gelöst bin, frei von Kontrolle und Darstellungsdrang, dann spiele ich das Werk. Natürlich steckt dann viel von mir darin. Dann bin es auch wirklich Ich, und es ist keine Konstruktion von mir selbst. Und das ist perfekt. Das ist der Optimalzustand. Und man steckt in der Klemme, denn auch das kann man nicht kontrollieren. Es geht um die Disziplin, offen und frei zu bleiben.

niusic: Aber irgendwas müssen Sie sich ja für die Zukunft vornehmen. Oder ist es nur, frei zu sein?
Hölscher: Ich will mehr Musikerin werden, als Geigerin zu sein.

niusic: Wo besteht der Unterschied?
Hölscher: Musiker sind ganzheitlicher. Weniger limitiert. Weniger rein Ausführende. Das zu erreichen, ist mein Ziel.

  1. Neue Musik tut weh. Unverstanden und von einer Vielzahl romantischer Musikfans in den Elfenbeinturm des Elitarismus verstoßen, vegetiert sie als „Stiefkind der Klassik“ vor sich hin. Doch die modernen Nachfahren von Beethoven und Schönberg sollte man nicht unterschätzen– Avantgarde hat ihre Gründe. (AJ)


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