Von Christopher Warmuth, 24.06.2017

Kanzelpredigt

Unser Redaktionsmitglied Christopher hat einen Pianomarathon hinter sich. Er besuchte in Fort Worth, Texas, die „Van Cliburn International Piano Competition“, einen der größten Klavierwettbewerbe der Welt. Aber er hat nicht nur über junge Tastenwunder nachgedacht ...

Kunstreligion ist etwas Herrliches. Menschen versammeln sich um den Altar, beten etwas an, ohne es wirklich zu kennen. Aber warum können wir uns der Sünde nicht enziehen?

Es scheint gewisse Gesetze zu geben, die überall gelten. Speziell in der Welt der klassischen Musik. Egal, ob in Texas oder in Deutschland. Die Gesetze: Wir lieben altes Repertoire. Wir fühlen uns von Stars angezogen. Wir sprechen häufiger über die Ausführenden als über die Musik. Wir lieben Rituale, die wir selbst kreieren. Und – und das ist das gewichtigste Gesetz: Wir predigen, aber wir lieben es zu sündigen.

Das ist auch beim „Cliburn“, einem der großen Klavierwettbewerbe der Welt nicht anders. Alle vier Jahre, gerade zum fünfzehnten Mal, wird in Texas akribisch nach dem Ausnahmetalent gesucht. Dreihundert Bewerber werden verhört, bis einer gewinnt. Dieser musste sich vor Ort wie die anderen neunundzwanzig nach und nach schwindenden Teilnehmer drei Recitals, einem Klavierkonzert von Wolfgang Amadé Mozart, einem Klavierquintett, klassisch-romantischem Repertoire und einem Klavierkonzert seiner Wahl vor einer neunköpfigen Jury stellen. Wenn man einem solchen Wettbewerb nun vorwirft, dass er das friedensbringende Bild der Klassik, genauer das gemeinsame Musizieren, den verbindenden Charakter der Sache an sich, negiert, wäre das so, als würde man einem Fisch vorwerfen, dass er Kiemen hat. Ein Wettbewerb ist nun einmal ein Wettrennen um den Pokal, da müssen die pianistischen Ellbogen ausgefahren werden. Nur, vorzuwerfen bleibt, dass man das partout nicht zugeben will. Lieber versucht man, sein eigenes Handeln zu verheimlichen, steigt auf die Kanzel und predigt.



Die ins viel kleinere Nebengebäude verbannten Symposien sind diese morgendlichen Predigten. Die Themen – Kulturvermittlung, Musik als mileauübergreifendes Gemeinschaftsprojekt für Kinder oder Kulturelle Diplomatie – sind zeitgemäß, anspruchsvoll und inspirierend. Bejaht wird mehr Partizipation, mehr Repertoire fernab des Eurozentrismus, die Politisierung von Kunst. Die These: Musik ist ein Kleber der Gesellschaft, sie ist ein Gemeinschaftswerk. Das Publikum, das sich abendlich beim Pferderennen der musikalischen Topelite von Morgen artistisch bespaßen lässt, redet aber eben nicht über diese These. Wie auch, wenn es darauf nicht aufmerksam gemacht wird. Die fette Cliburn-Broschüre bietet allerlei Informationen über den Vater des Klavierwettbewerbes, Van Cliburn, über die Wettbewerbs-Statuten, über die mit Referenzen vollgestopften Biografien der Teilnehmer, über die Cowboy-Historie von Fort Worth, aber nicht einmal eine Kurzbiografie von Mozart ist gedruckt, werden doch neun Klavierkonzerte von ihm gespielt. Und auf den Faltzettelchen am Abend stehen nicht einmal die Satzbezeichnungen darunter. Das ist absurd! So wird viel über die Pianisten gesprochen, wer welchen Prokofiew-Lauf präziser, schneller, perfekter (es fällt sogar das Wort richtiger) gespielt hat. Es wird viel altes Repertoire gespielt, und der Wettkampf-Gedanke regiert, ohne reflektiert zu werden.

Die Kluft könnte nicht größer sein! Mit einem Zehntel der Zuhörer wird Musik morgens zum Heilsbringer der Welt hochstilisiert, ehe der Grundgedanke abends auf der Bühne als Kontrastprogramm präsentiert wird. Und das ohne es zu diskutieren. Es wird einfach ignoriert, beschönigt und verschleiert. Warum fällt es uns so schwer, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden? Warum hätten wir gerne die Vision, bleiben aber bequem? Warum fordern wir Veränderung, ändern aber nichts?

Es ist viel leichter, sich in einer Elite auf die Schulter zu klopfen und sich selbst zu beweihräuchern, anstatt die Ärmel hochzukrempeln und sich von der Kanzel zu bewegen. Dann müssten wir vermutlich erst einmal selbst in den Spiegel sehen. Und das würde weh tun.

Vermutlich ist die Antwort banal: Es würde schmerzen, wenn wir uns dieser Kluft nähern. Und wir Menschen meiden Schmerz bekanntlich sehr gerne. Aber was wäre, ja was wäre, wenn der Schmerz in Wahrheit nur ganz kurz wäre, das Endergebnis aber langfristig schmerzfreier? Gewiss, das ist naiv. Aber vielleicht lag der gute alte Adorno ab und an richtig, als er davon sprach, dass Kultur uns aufzeigen muss, wie die Zukunft aussehen soll. Wenn die Zukunft besser sein soll als die Gegenwart – und davon zeugen Trump, Kriege, und (Vorsicht! Das ist jetzt wirklich naiv) Hungersnöte –, dann muss die Analyse uns ja selbst aufzeigen, in wie weit wir dafür verantwortlich sind.

Stattdessen klopft man sich auf die Schulter, ist zufrieden, bevor man überhaupt wirklich eine Frage stellt: Man tue ja so viel für den Nachwuchs, heißt es da in Fort Worth. Man lehre ja das Miteinander. Man liebe ja die Toleranz. Man wolle ja eine bessere Welt. Man halte ja nichts von Donald Trump.

Das mag sein. Nur leider verharren wir in unserer kleinen Kunstkathedrale, in der wir uns lieber den Ritualen hingeben, anstatt zukunftsorientiert miteinander zu streiten. Dann müssten wir aus dem Gemäuer ausziehen, zu den Klassiknichtaffinen. Das ist sehr viel verlangt. Fangen wir klein an, diskutieren wir die Antithese zwischen Predigt und Sünde aus, versuchen wir es bewusst auszuhalten. Dann hätten wir in Texas einen Klavierwettbewerb, der sich auch als solcher kommuniziert, sich dem Zirkus des Effekts hingebend, aber gleichsam kommuniziert, dass die Vision eine andere ist, dass die Pianisten, die erkoren werden, eben nur das Mittel zum Zweck sind. Die kleinen Pianistenwunder, die gegeneinander in den Ring steigen, sollten wir als Teil kenntlich machen, nicht als das große Ganze. Denn das Wahre, das Gute, das Schöne, das ist mehr.

Der Bruch im Bilde:


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