Von Christopher Warmuth, 28.10.2016

Autsch!

Eigentlich war ich ziemlich entspannt. So entspannt, wie man es beim Zahnarzt eben sein kann. Man liegt auf der Liege, harrend der Momente, die auf einen zukommen. Dann kamen die Schmerzen. Wegen Ludovico Einaudi.

Ich bin nicht der Meinung, dass jeder Mensch Arnold Schönberg, B.A. Zimmermann oder Rebecca Saunders hören muss. Aber sie gehören dazu. Es ist ein unaufgeregtes Nebeneinander.

Ich bin eher der Typ, der immer noch nicht so recht versteht, warum man in Gottes Namen auf die Idee kommt, Menschenmetzger zu werden, warum man mit Instrumenten an Kiefern herumbohrt, spült und poliert. Ganz zu Schweigen von den Kinderplagen, die herumkrakeelen, brüllen und denken, dass man der Teufel ist. Aber das, was mir an diesem Tag wirklich weh tat, ist nicht mit den Höllenschmerzen eines Bohrers zu vergleichen.

Die Ärztin ist superlieb. Das Gegenteil eben von einem Menschenmetzger. Sie rief sich kurz ins Gedächtnis, was ich nochmal beruflich mache. Musikjournalist für klassische Musik. „Ahhhja. Stimmt. Ich erinnere mich. Mein Freund und ich mögen Klassik auch total gerne. Ich höre so gerne Ludovico Einaudi“. Autsch. Das hat gesessen. Der Schmerz durchzieht meine hochkulturellen Eingeweide. Ihr Ernst? Einaudi? Klassik? WTF?

Jetzt kommt in mir der antrainierte Mechanismus zum Tragen, der einem als Musikjournalist eingetrichtert wurde. „Christopher. Ruhig bleiben. Sei nicht elitär.“ Aber ehrlich gesagt, geht es mir ja auch gar nicht um Einaudi. Nicht jeder Mensch muss Arnold Schönberg, B.A. Zimmermann oder Rebecca Saunders hören. Einaudi hat seine eigene Zielgruppe. Musikjournalisten sind nicht die Indie-Spaßpolizei (also Personen, die auf WG-Partys herumhüpfen und den neuesten Shit von ihrem Smartphone auflegen, nur um ein halbes Jahr später besagte Musik ganz fürchterlich zu finden, weil sie jetzt in den Charts ist). Zurück zum Zahnarztschmerz: Einaudi ist nicht die Ursache, sondern lediglich das Symptom.



Anna Netrebko im Fransenglitzerkleid eine austauschbare Arie singend, mit einer Billomoderation von Thomas Gottschalk verschlimmbessert.

Der Ursprung ist der, dass ich einfach nicht verstehe, warum gefühlt achtzig Prozent der Menschheit denkt, dass das alles ist. Sicher – Ludovico Einaudi IST ein Teil der klassischen Musik. Ich kann es dem Großteil der Bevölkerung noch nicht mal verübeln, dass in ihrer Schublade „Klassik“ Einaudi sehr viel Raum einnimmt. Daneben sind dort ja noch Jonas Kaufmann und Anna Netrebko eingepfercht. Stimmt. Die belegen den anderen Teil der Schublade.
Warum ist das so? Schauen meine klassikfernen Eltern die Gala zur Verleihung des ECHO Klassik – gottlob tun sie das nicht –, dann würden sie denken, dass es mein Beruf ist, immer über so etwas zu schreiben: Anna Netrebko, im Fransenglitzerkleid eine austauschbare Arie singend, mit einer Billomoderation von Thomas Gottschalk verschlimmbessert. Was sie da singt, erschließt sich dem Zuschauer nur schwer. Irgendwas Veristisches. Text? Keine Ahnung. Wird ja nicht eingeblendet. Handlung? Ähm, keinen Schimmer. Es handelt sich um ein Häppchenkultur-Event – was wiederum auch nur einen kleinen Teil der ganzen Klassik-Wahrheit ausmacht.

Die Akteure der professionellen Klassikszene jammern bei jedem Branchentreff darüber – sei es bei der Heidelberg Music Conference, sei es bei der ECHO-Klassik-Gala oder sonstwo. „Wir wissen ja, was Klassik ist. Aber die Zeit heute erlaubt es uns nicht mehr, dass wir das selbstbewusst nach außen tragen. Wir können froh sein, dass uns überhaupt noch jemand zuhört“, sagte mir der Pressesprecher eines großen deutschen Labels.

Tadaa! Die Ursache des Übels. Das war es, was mich auf dem Zahnarztstuhl so schmerzhaft hat zusammenzucken lassen. Nicht, dass jemand Pop-Klassik hört, sondern, dass dieser jemand noch nicht mal erahnen darf, um was es sonst noch gehen könnte. Es ist ein Raub an Möglichkeiten! Die Klassik-Vermarkter denken zu einem großen Teil, dass der geliebte Inhalt nicht mehr zu vermitteln ist. Dass sich dafür keiner interessieren würde. Das ist ein Problem: Wir – die selbstausgerufenen Hüter der Klassik – stehen eigentlich gar nicht hinter dem „Produkt“. Es gibt mehrere Auswege: Entweder wir bauen Crossover-Grenzbereiche weiter aus, bieten mehr Musikvermittlung an und „holen die Leute da ab, wo sie sind“. Oder wir ecken mehr an, kämpfen für unsere Nischenmusik in der Nische, argumentieren gegen Einaudi und für Saunders, sind doch ein wenig Indie-Spaßpolizei. Oder wir akzeptieren, dass klassische Musik nur einen winzigen Zirkel erreicht und streben nicht nach den einhundert Prozent, sondern vielleicht nach fünfzehn. Egal, wer sich für was entscheiden wird, eines sollte vermieden werden: ducken und ausharren, was da kommt.

Meine Zahnärztin und ich haben einen Deal gemacht: Jeder schleppt den anderen in ein Konzert seiner Wahl mit. Ich nehme sie mit in die Oper, sie sucht nach einem Konzert aus dem Crossover-Bereich. Auf dass wir uns lange streiten werden!

© Axelle


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