Es ist ein hochtrabender Titel, den Joseph Haydn im Jahr 1787 seiner Auftragskomposition gab: „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ klingen nach erhobenem Zeigefinger, nach Märchen, Heldenroman und Lehrbuch in einem. Mit Bezug auf das Cover der Mitte April erschienenen Einspielung der Passionsmusik durch das Farkas Quintet Amsterdam bekommt der Titel aber einen anderen Beigeschmack, einen humorvollen, einen leichten, einen auffordernden – und gleichzeitig hat das Cover das Potenzial, einen wahnsinnig zu machen.
Vor dem leuchtend roten bzw. in einer anderen Version leuchtend gelben Hintergrund prangen sieben unterschiedlich lange gelbe bzw. rote Balken, linksbündig und in ihrer Höhe alle gleich, die entstehenden Lücken zwischen ihnen haben den gleichen Abstand. Geschwärzte Worte, war meine erste Assoziation, doch durch die gelbe statt schwarze Farbe kamen mir als zweite Assoziation ein Lückentext, Ausfüllfelder in einer Word-Vorlage oder in einem Anmeldeformular, wenn man sich die folgenden Vorgaben vor jeder Zeile denkt: Nachname, Vorname | Wohnort | Geburtsdatum als TT/Monat/JJJJ | Geschlecht.
Das waren aber sicherlich nicht die letzten Worte des Nazareners am Kreuz. Sieben Worte? Dritte Assoziation: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das sind sieben. Es ist aber nur einer von sieben Sätzen, die als „die letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ gelten und die Joseph Haydn vertont hat: „Vater, vergib ihnen“, „Fürwahr, ich sag es dir“, „Frau, hier siehe deinen Sohn“, „Mein Gott, mein Gott“, „Ach, mich dürstet“, „Es ist vollbracht“ und „Vater, in deine Hände“. Es waren sieben Sätze, um genau zu sein, die die sieben Stadien seines Todeskampfes und seines Ringens mit Gott und seinem Glauben begleiteten.
So halte ich die CD in den Händen und habe schon länger über ihren Inhalt nachgedacht, als mir bewusst ist. Im vierten Anlauf meiner Assoziations-Grübel-Phase über das Cover, das mich direkt wieder anspringt, beginne ich zu zweifeln, dass Haydns Titel wirklich war „Die sieben letzten …“ – denn das klingt doch wirklich sehr nach Clickbaiting im 21. Jahrhundert: „Die besten sieben Bücher für junge Leser“, „Diese sieben Tipps helfen Migräne vorzubeugen“, „Die sieben besten Wochenendtipps für Wassersportler“, „Die sieben größten Trainermissverständnisse“, „Die sieben schnellsten Fatburner“.
Aber doch: Haydn hat genau diesen Titel gewählt. Und mittlerweile, in meiner fünften Grübel-Phase, glaube ich auch, dass die Länge der Balken auf dem CD-Cover keinem implizierten Sieben-Worte-Satz entstammt – jedenfalls hoffe ich es. Denn wäre das der Fall, es würde mich wahnsinnig machen, diesen Satz nicht zu kennen. Diesen Satz, den man als christlich erzogener Mensch, glaubt man, doch ad hoc abfeuern können müsste, wenn es ihn denn gäbe. Ich stelle mir also im sechsten Grübel-Schritt die Frage: Welche sieben Worte setze ich in diese Lücken ein? Welches wären vielleicht meine sieben letzten Worte, die sieben Worte, die mein Leben, meine Einstellung zur Welt, zum Tod, zu mir selbst am besten beschreiben? Sieben Worte, die nicht meine 08/15-Standardformular-Antworten auf jeder Anmeldeseite umfassen, sondern mehr.
Siebter Assoziations-Schritt: Ich schaue auf die Rückseite. Fast eine Stunde Musik. Das Instrumental-Oratorium arrangiert für Holzbläserquintett. Musik ohne Worte über Worte. Das fällt mir gerade zum ersten Mal auf. Haydn hat seine Komposition „Sieben Worte“ genannt und komponiert kein einziges gesungenes Wort. Er arbeitet nur mit der Assoziation der Klänge, nur mit dem mitschwingenden Subtext der Worte „unseres Erlösers“. Und so werden die sieben Worte wieder neu denkbar, nämlich nicht als Worte, mit denen man einen Lückentext ausfüllen, die man schwärzen oder als Überschrift für etwas benutzen kann. Sondern sieben Worte, die nur individuell funktionieren. Auch wenn das den Hörer zunächst in eine ähnlich ratlose Situation bringen sollte wie den Betrachter dieses Covers.
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