niusic: Drei Worte über Franco Fagioli?
Fagioli: Menschlich, leidenschaftlich und neugierig.
niusic: Welches Countertenor-Vorurteil geht dir auf die Nerven?
Fagioli: Dass Gott und die Welt immer zu wissen scheinen, für was ein Countertenor gut oder schlecht ist. Viele teilen uns Sänger immer in Stimmfächer ein. Da sind wir von vorneherein drin und wenn wir vielleicht denken, dass eine andere Rolle auch zu uns passen könnte, obwohl sie jetzt nicht dem Kanon der Countertenöre zugeschrieben wird, dann erfährt man sofort eine Abwehrhaltung. Warum hören die Leute nicht erst einmal zu?
niusic: Aber hast du wirklich das Problem, dass dir keiner zuhört?
Fagioli: Es gab da mal ein Erlebnis. Ich wollte für „Le nozze di Figaro“ von Wolfgang Amadeus Mozart vorsingen und man sagte mir am Telefon, dass man für Cherubino – die Hosenrolle – lieber eine Frau haben wollte. Ich habe es dann telefonisch nochmal versucht, aber sie wollten einfach nicht. War mir dann egal, ich bin einfach zum Vorsingen gegangen, unangemeldet. Und dann habe ich vorgesungen. Und ich habe die Rolle bekommen. Es braucht einfach mehr Toleranz …
niusic: Auf deiner neuen Rossini-Platte nimmst du gezielt die Stücke von Rossini auf, die er für Mezzosopran geschrieben hat, anstelle der zwei Rollen für Kastraten. Ist das eine Form des Protests?
Fagioli: Nein. So ein Quatsch. Das ist doch das gleiche Vorurteil. Als würde Rossini auf einmal anders schreiben, obwohl er sich im gleichen Stimmumfang befindet, weil er für einen Kastraten oder für eine Mezzosopranistin schreibt. Wenn man sich die beiden Kastratenpartien von ihm anschaut, anhört und singt, stellt man sofort fest: Er hat in der selben Manier komponiert. Warum ist es also verpönt, so etwas aufzunehmen? Ich liebe diese überästhetisierte Musik für die Stimme. Rossini liebte es einfach, für Stimme zu schreiben, für welche war ihm eigentlich egal. Und die Mezzopartien liegen mir gut im Hals. Also – die Konsequenz ist, dass ich es singen werde.
niusic: Das nächste Vorurteil von mir. Warum eigentlich kein Barock?
Fagioli: (lacht) Ich habe ja Barock gesungen und ich werde es sicherlich auch wieder singen. Aber im Moment will ich zu meinen Ursprüngen, zum Belcanto.
niusic: Du kommst aus Argentinien. Hat man da eher ein Faible dafür?
Fagioli: In Deutschland oder in Europa hat man vor allem ein Faible für Barockmusik. Ich würde es eher so herum sagen. Zum Belcanto bin ich einfach deshalb gekommen, weil mein Lehrer mir das nahelegte …
niusic: Aber du hattest auch eine Lehrerin …
Fagioli: Ja. Es gab einfach in ganz Argentinien niemanden mit dem Stimmfach Countertenor. Da habe ich einfach Leuten vorgesungen, denen das gefiel und die mich dann unterrichtet haben. Da habe ich viel Rossini gemacht. Als ich dann nach Europa wollte, war klar, dass ich um Barockmusik nicht herumkomme. Wobei ich sie auch wirklich liebe. Aber in Deutschland mein erstes Album mit Rossini zu machen, wäre aufgrund der Vorurteile undenkbar gewesen. Obwohl ja Rossini wirklich jemand war, der zumindest in meiner Sicht ein Sohn in der Barocktradition ist …
niusic: Wie überzeugst du jemanden von Rossini?
Fagioli: Magst du ihn nicht?
Niusic: Manchmal nicht. Ich kann gar nicht genau sagen warum. Er komponierte sehr im Stil von Mozart, aber ich habe das Gefühl, dass ich bei Rossini immer höre, wie es weitergeht. Da fehlt etwas die Spannung …
Fagioli: Rossini hört vor allem immer etwas eher auf, er dreht sich nicht noch fünf Mal um. Das ist das Fantastische an Rossini, er war sich sehr genau bewusst, dass er in Traditionen komponierte. Damals wollten ja alle immer etwas Neues machen. Aber er schaute zurück. Und dann deutet er Dinge an, die er aber vorzeitig beendet. Er spielt mit der Hörerwartung …
niusic: Was erwartest du von den Hörern nach der Platte?
Fagioli: (lacht) Dass sie ins Konzert wollen.
niusic: Gewinnmaximierung?
Fagioli: Nein. Wirklich nicht. Ich finde Aufnahmen toll, aber sie sind nicht das, was ich am meisten liebe. Aber mit Platten erreichst du mehr Menschen, das ist ja fast schon barrierefrei. Am liebsten ist es mir dennoch, dass die Leute mir live zuhören. Weil man mich da voll ernst nimmt. Als du mich am Anfang gefragt hast, wie ich mich beschreiben würde, war der Begriff „menschlich“ das, was mir sofort in den Sinn kam. Ich bin in erster Linie Mensch, dann bin ich Musiker, dann bin ich Sänger, dann bin ich Countertenor. Und im Konzert bin ich in erster Linie auch Mensch. Weil das, was ich dann singe, ist dadurch verändert, was ich an dem Tag gefrühstückt habe, wie ich aufgestanden bin, was mir eben passiert ist …
niusic: Aber auf einer Platte ist das ja auch so …
Fagioli: Nicht ganz. Jedenfalls vergisst man es häufig, weil man sich hinsetzt und auf Knopfdruck hören kann. Das ist doch unmenschlich, oder?
niusic: Es unterwirft sich mehr der Perfektion.
Fagioli: Das ist auf der einen Seite toll, auf der anderen hat es auch Nachteile. Perfektion darf nicht das überschatten, warum wir diese Musik machen. Sie soll uns tiefgreifend berühren. Da braucht es mehr als Perfektion. Wenn ich darüber nachdenke, ist die Platte für den Künstler das, was ein Selfie für Nutzer von sozialen Netzwerken sein soll.
niusic: Ganz komme ich nicht mit …
Fagioli: Wenn du ein Selfie machst, dann lachst du, oder du inszenierst dich irgendwie. Wenn du Menschen auf einen Kaffee oder einen Tee triffst, dann ist da mehr als eine inszenierte Momentaufnahme. Dann bist du menschlich …