Der Bus hält irgendwo in der Pfalz an einem Kreisverkehr. Gut eine halbe Stunde zu Fuß sind es von der Bushaltestelle in Burrweiler zur Villa Ludwigshöhe. Vorbei an Weinbergen, immer bergauf, der Nebel hängt über den Hügeln. Vor mir jagen zwei Rehe durch den Wald. In der Villa bin ich mit dem Pianisten Joseph Moog verabredet, am Abend wird ein Konzert im Ludwigsstift stattfinden. Nach der Zugabe muss ich fluchtartig los, der Bus fährt hier samstags nur alle zwei Stunden.
niusic: Du kennst die großen Bühnen, spielst heute Abend aber auf einer sehr kleinen. Was reizt Dich an solchen Formaten?
Joseph Moog: Zunächst ist es die intime Atmosphäre, die mich an das erinnert, was ich aus den Büchern kenne. Die Salons bei Liszt oder Chopin waren ja nicht besonders groß. In diesem Fall kommt noch der Heimatbezug dazu. Ich bin in Rheinland-Pfalz aufgewachsen und möchte die Kultur hier unterstützen. Ein Künstlerleben zu bestreiten, bedeutet mehr, als auf den großen Bühnen zu spielen.
niusic: Immer wieder liest man, dass Du Dich mit 13 gegen die Wunderkind-Karriere entschieden hast. Im Rückblick: die richtige Entscheidung?
Moog: Absolut. Die Kommerzialisierung der Musikszene schreitet immer weiter voran. Ich finde, wir bewegen uns auf extreme Zustände zu, indem wir die Kerneigenschaften der klassischen Musik abrunden wollen. Damit schaffen wir uns selber ab, der Künstler wird mehr und mehr zum Produkt. Es war immer mein Anliegen, mein eigener Herr zu sein. Das ist ein schwerer Weg, weil mir die Unterstützung von einem potenten Label und die Automatismen fehlen, die andere Künstler haben. Aber ich bin frei, das sehe ich als großen Vorteil.
niusic: Ich hatte auch den Eindruck, dass Du Dich der Vermarktung eher verschließt ...
Moog: Verschließen ist vielleicht das falsche Wort. Wir versuchen immer, die Dinge in Schubladen zu stecken, aber das wird der Sache nicht gerecht. Am Anfang war es bei mir das Virtuosentum, dann waren es die Raritäten. Jetzt setzt vielleicht ein wenig die Verwirrung ein, was das eigentlich für ein Typ ist. Ich verändere mich ja auch. Aber ich war immer ein bisschen ein Eigenbrötler, das möchte ich mir bewahren.
niusic: Auf der anderen Seite kommt man um ein Profil auf dem Markt ja nicht herum ...
Moog: Ich finde es wichtig, dass etwas authentisch ist – und viele Dinge sind es nicht. Images werden gewechselt. Künstler merken, dass sie im Gespräch sind, wenn sie dieses oder jenes außermusikalische Feature benutzen. Es gibt eine Frage, die mir oft im Interview gestellt wird und die mich sehr stört: Was machen Sie sonst so? Man braucht immer noch irgendwas Zusätzliches. Der eine spielt barfuß, der andere nackt, der nächste nur im Dunkeln – die Musik allein ist nicht genug.
niusic: Authentisch ist ja schon zum Marketing-Begriff geworden. Wie oft liest man das in Programmheften ...
Moog: Viele assoziieren authentisch mit gleichbleibend. Wer sich verändert, ist nicht mehr authentisch. Vielleicht stört Dich das an dem Begriff.
niusic: Du sprichst viel über Veränderung. Kannst Du greifen, was sich bei Dir verändert hat?
Moog: Unsere Generation ist auf der Suche nach einer gewissen Konstanz. Alles um uns herum ist in Bewegung, man weiß nicht, was in fünf oder zehn Jahren ist und kann keine Pläne machen. Ich frage mich, wie ich es mit zunehmendem Alter schaffen kann anzukommen. Mir fehlen eine gewisse Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Ich genieße nichts so sehr wie eine Woche zu Hause. Das war früher anders. Da hatte ich eher den Spirit: Ich muss es allen zeigen, ich muss alle übertreffen. Jetzt wo ich eine Familie habe, stellt sich natürlich die Frage, wie viel ich für mich beanspruchen darf.
niusic: Was bedeutet ankommen für Dich?
Moog: Es geht zum Beispiel um mehr Geradlinigkeit bei den Engagements. Die letzten fünf Jahre habe ich pro Saison zwanzig verschiedene Klavierkonzerte 56 gespielt – auswendig. Dazu mindestens sechs Soloprogramme. Dann noch Kammermusik 120 und andere Projekte. Ich merke, dass es nicht ewig so weitergehen kann. Ich muss Wege finden, um mich vor mir selbst zu schützen.
Diese Form ist was für Mittelpunktsmusiker. Ein oder mehrere Solisten werden vom Orchester begleitet. Antonio Vivaldi hat nicht nur die "Vier Jahreszeiten" komponiert, er war ein Tüftler und Neuerfinder des Konzertrades. Bei seiner Revolution des Concerto Grosso gibt es viel zu entdecken, seine Solokonzerte sind irrsinnig virtuos. (CW) ↩
Ursprünglich wurde sie tatsächlich in Kammern gespielt, nämlich in den Privaträumen von Fürsten und Königen. Deshalb spielen in Kammermusik-Werken nur wenige Musiker, zum Beispiel als Streichquartett, Bläseroktett o.ä., zusammen. Bürger des 19. Jahrhunderts entwickelten aus der höfischen Elitekunst ihre Hausmusik, wie z.B. die Schubertiaden, die im kleinsten Kreis vor ausgewähltem Publikum stattfanden. (AJ) ↩
Joseph Moog
niusic: Das erinnert mich an Luca Buratto, der zwar den Honens-Klavierwettbewerb gewann, dem es aber trotz gutem Karrieresprungbrett zu viel wurde. Hattest Du Momente des Zweifelns?
Moog: Ich habe nie in der Karriere gedacht, es war immer mein Leben. Ich glaube, das ist der große Unterschied zum Sport. Es gibt ja viele Analogien: Man muss früh anfangen, trainieren, nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Aber es gibt eben auch Unterschiede: Musik mit Punkten zu messen, finde ich ab einem bestimmten Level absurd. Deswegen habe ich mich Wettbewerben größtenteils verschlossen und möchte auch nicht in Jurys sitzen. Trotzdem muss man davon leben. Wenn man auf ein bestimmtes Niveau kommen will, muss man sein Leben der Sache widmen und kann nicht nebenbei Zahnarzt sein oder so. Und da gehört der Markt dazu. Aber auch nach frustrierenden Erlebnissen bleibt die Musik frei, wir können ihren Zauber nicht restlos erklären. Das ist unser Glück. Mich tröstet immer wieder der Gedanke, dass die Musik auch noch da sein wird, selbst wenn das ganze System kollabiert.
niusic: Auf deiner neuen CD spielst du ausschließlich Liszt, durchaus ein Virtuosenprogramm. Warum jetzt diese CD?
Moog: Franz Liszt hat mich von klein auf fasziniert. Diese Gegensätze, Sinnlichkeit und Spiritualität zum Beispiel, reizen mich bis heute. Das wollte ich einfangen und ein Porträt zeichnen. Liszt kommt mir vor wie ein Philosoph; es geht um Fragen, die die wir uns heute noch stellen.
niusic: Und die Virtuosität gehört eben dazu ...
Moog: Virtuosität wird oft negativ konnotiert, obwohl es an sich ein wertfreier Begriff ist. Für mich bezeichnet Virtuosität die perfekte Kombination aus allen Elementen, die für das Klavierspiel wichtig sind, da geht es nicht nur um schnelle Noten und Akkordfolgen. Künstler müssen suchen. In dem Moment, wo der Künstler satt ist und nicht mehr sucht, hört er auf, Künstler zu sein.
niusic: Was suchst Du gerade?
Moog: Heute suche ich das Extrem, die Version, die wie improvisiert klingt, ohne an Detail vermissen zu lassen. Das wird schwieriger, je älter ich werde, weil es immer mehr Risiko involviert. Da gibt es die Gefahr, dass Töne wegbleiben oder was danebengeht. Oft ist es so, dass ich mich nach Produktionen leer fühle und denke: Jetzt geht nichts. Üben ist dann schwer. Einfach, weil so viel gesagt wurde. Die Aufnahme ist vorbei, aber man hält ja nichts in den Händen ...
Joseph Moog
niusic: Die h-Moll-Sonate und die Dante-Sonate sind ja ungemein beliebte Werke, beim Busoni-Klavierwettbewerb war die Dante-Sonate ein Gassenhauer. Wie schafft man es da, noch etwas Neues zu finden?
Moog: Das ist ein guter Punkt, ich hatte das mit der h-Moll-Sonate. Ich wollte dieses Stück nie spielen. Nicht, weil ich es nicht mochte, sondern weil es überall gespielt wurde. Deswegen habe ich mir mit der h-Moll-Sonate viel Zeit gelassen. Natürlich mögen die Pianisten diese Werke, weil man viel zeigen kann. Aber das ist genau der Ansatz, der mir lange auf die Nerven ging. Im Moment gibt es ja diesen Trend, dass junge Pianisten sofort mit Bachs Goldberg-Variationen oder Schuberts letzten Sonaten anfangen. Das finde ich bedenklich.
niusic: Inwieweit vergleichst Du andere Interpretationen, bevor Du Dich einem Stück widmest?
Moog: Ich versuche das zu vermeiden. Wir sind von klein auf trainiert, Dinge zu imitieren. Wir spielen nach, was der Lehrer uns vorspielt. Da gibt es die Gefahr, dass man Marotten übernimmt, das ist oft genug passiert. Für mich ist die Referenz die Partitur 251 . In den letzten zwei Jahren habe ich es bewusst vermieden, Aufnahmen der h-Moll-Sonate zu hören.
Die Partitur ist das Buch der Musik: Ganz genau ist hier jedes Instrument mit seinen Noten niedergeschrieben, damit die Ideen und Visionen des Komponisten die Zeit überdauern und immer wieder zu klingender Musik werden können. Dass sich manches nicht gut notieren lässt – genaue Phrasierungen, Tempi oder Ausdruck zum Beispiel – gibt uns heute die Gelegenheit, herrlich über Interpretationsfragen zu streiten. (AV) ↩
niusic: Es ist Dir ja durchaus ein Anliegen, auch unbekanntere Werke zu spielen. Wie marktkompatibel sind denn solche Raritäten?
Moog: Wir haben dieses gigantische Repertoire auf dem Klavier, und ich mag die Barrieren nicht, die da gesetzt werden. Die einen sagen: Wir stehen für die Raritäten. Die anderen sagen: Diese unbekannten Werke braucht keiner, das ist zu riskant für den Veranstalter. Das finde ich Blödsinn. Es gibt ja keinen Komponisten, der sagt: Jetzt schreibe ich mal eine Rarität! Ich möchte auf die Bühne bringen, was mich interessiert. Wenn man eine gute Mischung findet, profitieren im besten Fall beide Seiten.
niusic: Du schreibst auch selbst Stücke, möchtest aber irgendwie nicht, dass sie gespielt werden, habe ich den Eindruck ...
Moog: Es ist eine Spielwiese für mich. Das ist sehr befreiend, um einfach rauszulassen, was in mir schlummert. Es gehört mir und entzieht sich dem Konzertbetrieb. Da kann ich das Gehirn entlüften und auch mal Fehler machen.
© Außenaufnahmen: Jesper Klein