Schöne Dinge sind überall. Ein Buch, ein Mensch, ein Lied, ein Tag, irgendwie kann alles schön sein. Wir können uns schön fühlen oder anderen Menschen für ihre Schönheit Komplimente machen. Es gibt innere und äußere Schönheit, schöne Tugenden und Künste.
Schönheit zieht uns an. Gleichzeitig bedeutet, Dinge für schön zu erklären, auch immer ein Urteil oder eine Wertung. Die Tatsache, dass die Bezeichnung einer Sache als schön ein Urteil ist, und gleichzeitig für verschiedene Menschen verschiedene Dinge bedeuten kann, verschiebt das Konzept in den Bereich des Subjektiven. So weit so gut.
In der Musik, als eine der schönen Künste, hat das Urteil über Schönheit schon viele Streits ausgelöst. Schlaue Menschen haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie man Schönheit festlegen, beschreiben oder sogar messen kann. Dabei stellt sich immer wieder die Frage: Wie kann es schöne Musik geben, wenn nicht alle Menschen die gleichen Dinge als schön empfinden? Wer oder was bestimmt die Ideale musikalischer Schönheit?
Wir drehen die Zeit um 166 Jahre zurück und landen im Jahr 1854. In diesem Jahr veröffentlichte der Musikkritiker Eduard Hanslick seine Schrift Vom Musikalisch Schönen und stieß als einer der ersten überhaupt den Diskurs um die ästhetische Bewertung der Musik an. Für ihn war es nicht genug, nur die Gefühle zu beschreiben, die beim Hören von Musik ausgelöst wurden. Er verlangte objektive Beschreibungen von Musik, um tatsächlich zu erklären, was in der Musik selbst als schön bezeichnet werden kann. Für ihn mussten schöne Dinge auch schön sein, wenn sie keine Gefühle auslösten – auch wenn sie überhaupt nicht rezipiert wurden.
Gut 30 Jahre später griff der Musiktheoretiker Hugo Riemann Hanslicks Werk auf, denn es hatten sich zwei Lager aufgetan. Zum einen der Formalismus in Entsprechung Hanslicks, zum anderen die Auffassung, Musik wäre eben genau dazu da, Empfindsamkeiten darzustellen und auszulösen. In seiner Veröffentlichung Wie hören wir Musik? versuchte Riemann sich an einer neuen, verbindenden Auslegung von musikalischer Ästhetik. Für ihn waren die formale und die affektbezogene Seite der Musik nichts Gegensätzliches, sondern in der Musik bereits all das enthalten. Die Erfüllung, die dann durch das Musikhören ausgelöst wird, setzte er in Beziehung mit den individuellen Lebenshintergründen und der körperlichen Übertragung von Energie durch die Musik auf die Hörenden.
Um das Ganze zu konkretisieren, begannen die Theoretiker:innen später, die Schönheit von Musik anhand musikalischer Merkmale festzumachen. In seinem Radiobeitrag Schöne Stellen von 1965 erklärte Theodor W. Adorno konkrete Stellen in verschiedenen Werken für schön. Als sich klar bekennender Formalist kritisierte er die für ihn am weitesten verbreitete Art des Musikhörens: das atomistische Hören. Atomistisches Hören bedeutete für ihn, sich bestimmte Stellen in der Musik wieder und wieder anzuhören. Diejenigen, die atomistisch hörten, sah er nicht in der Lage, Musik als Ganzes zu verstehen. Sie würden sich nur daran freuen, die gleichen Stellen oftmals zu wiederholen, anstatt wissen zu wollen, was auf die betreffenden Stellen folgt. Trotzdem sah er es als notwendig an, musikalische Schönheit anhand einzelner Stellen begründen zu können, was er dann auch tat, zum Beispiel anhand einer Stelle aus dem Finale der Hochzeit des Figaro oder dem Ende des zweiten Satzes von Beethovens Appassionata.
Ähnlich wie Adorno machte auch der amerikanische Musikästhetiker Jerrold Levinson die Schönheit von Musik an bestimmten Merkmalen fest. In seinem Text Musical Beauty von 2012 sammelte er Merkmale für schöne Musik im eng gefassten Sinn. Dazu gehören: moderates Tempo, gleichmäßige Dynamik, im Legato gehaltene Artikulation, limitierte Dissonanz, Dur-Tonalität, symmetrische Phrasengestaltung und Lebhaftigkeit, aber auch Melancholie und ein gewisser Grad an Neuartigkeit oder unerwarteten Entwicklungen. In einer Liste an schönen Musikstücken aus der Klassik im engen Sinne nannte er etwa Pavane pur une infante defunte von Maurice Ravel, Prelude á l’apres-midi d’un faune von Claude Debussy, das Adagietto aus der 5. Sinfonie von Gustav Mahler, die Meditation aus Thais von Jules Massenet oder Die Moldau von Bedřich Smetana – alles Stücke aus dem heute dauergespielten Klassik-Kanon.
Solche Aufzählungen sind im Bereich der Klassik häufig zu finden. Andere Genres, zum Beispiel die Popmusik, kämpfen bis heute um Anerkennung, auch schön sein zu dürfen. Bis jetzt konnte die populäre Musik ihren Ruf noch nicht ablegen, zu simpel zu sein. Aus formalistischer Sicht ist gerade über die bekanntesten Subgenres wie Schlager vermeintlich schnell alles gesagt. Aber genau die sind enorm erfolgreich. Worin liegt ihre Schönheit? Der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen macht in Über Pop-Musik ästhetisches Empfinden an drei Entwicklungsstufen fest. Zuerst werden die Hörenden durch einen Tonträger auf bestimmte Musik aufmerksam. Dann beginnen sie, sich immer mehr mit den Künstler:innen zu beschäftigen. Sie hören Interviews, sammeln Bilder, und basteln sich so eine ganze Lebensrealität um die Person herum. Im letzten Schritt, dem Konzerterlebnis, bestätigt sich das Bild, das sie sich gemacht haben, oder sie passen es an. Schönheit geht also weit über die Musik selbst hinaus und ist durch unsere persönlichen Erfahrungen geprägt.
In der empirischen Ästhetik ist diese Erkenntnis bereits angelangt. Deswegen wird dort versucht, musikalische Schönheit nicht allein theoretisch zu beschreiben, sondern physiologisch zu messen. In ihrer Studie Experiencing Musical Beauty führten Diana Omigie und Kolleg:innen 2019 verschiedenste Messungen mit ihren Proband:innen durch. Diese hatten zuvor schöne Stellen in ihrer persönlichen Lieblingsmusik angegeben. Während sie diese Musik anhörten, wurde ihre Atemfrequenz, der Hautleitwert, Puls und Muskelspannung im Gesicht gemessen. Am Ende wurde die Musik an der Stelle analysiert und mit den Ergebnissen der Messungen korreliert, sodass bestimmte physiologische Vorkommnisse bestimmten musikalischen Merkmalen zugeordnet werden konnten. Schönheit in Zahlen.
All diese Herangehensweisen, Deutungen und Erklärungen zeigen am Ende: Es gibt sie nicht, die Einigkeit. Oder vielmehr, die allgemeingültige Erklärung dazu, was Schönheit in der Musik bedeutet. Für die einen sind es musikalische Strukturen, für nächsten sind es persönliche Musikerlebnisse und für andere ist es alles zusammen. So gibt es weiterhin immer Neues zu entdecken, der Musikgeschmack passt sich an, Charaktere lassen sich über Musikvorlieben noch besser kennenlernen. Es bleibt spannend. Irgendwie auch schön.