Von Alexander Gurdon, 07.10.2020

Puccini & Privatjacht

Jonas Kaufmann ist jetzt bei Amazon. Also nicht er. Eine Doku über ihn. „Amazon exclusive“ heißt das Format. „Jonas Kaufmann – ein Weltstar ganz privat“ ist die erste Musikdokumentation aus dem Hause Jeff Bezos. Alexander Gurdon war gespannt. Und ein bisschen ängstlich. Das Minutenprotokoll.

0:00:00 Den Trailer gibt es hier. Ich öffne einen Weißwein und drücke auf Play.

0:00:11 Elf Sekunden geschaut. Als Partner der Produktion strahlen mich die RTL Studios an. Das kann was werden.

0:00:44 Warme Musik. Jonas Kaufmann sitzt lesend im Fenster. Im Halblicht. Barfuß. Er spricht von Ruhe und Zuhause.

0:01:23 Sein Medienmanager Thomas Voigt sagt aus dem Off, dass es früher „die drei Tenöre“ (Pavarotti, Domingo, Carreras) gab, heute nur noch den einen. Das ist Quatsch. Dazu singt Jonas Kaufmann schöne lange Töne.



0:03:00 Nach drei Minuten Dokumentation haben wir schon Leoncavallos Pagliacci, Bernsteins West Side Story und natürlich Puccinis Nessun Dorma geschafft. Gute Quote. (Fun Fact: Auf dem hohen Puccini-H ist übrigens gar keine Fermate. Macht aber jeder seit Pavarotti.)

0:03:30 Begeisterte Menschen in Regencapes stehen auf und rufen Bravo.

0:04:00 Endlich bei Kaufmanns zuhause. Weichzeichner. Kinderschaukel. Klaviermusik. Ich trinke Wein.

0:04:46 Seine Ehefrau Christiane Kaufmann, geb. Lutz wird immerhin im Untertitel als „Regisseurin“ vorgestellt und nicht nur als seine Frau. (Spoiler: Über ihre Arbeit werden wir natürlich trotzdem nichts erfahren.)

0:06:19 Jonas Kaufmann bohrt mit seiner Tochter ein Loch in ein Stück Holz. Und wir lernen, dass er Perfektionist ist. Seine Tochter freut sich, dass er „höchstpersönlich“ für sie da ist. Na dann.

0:08:41 Jonas Kaufmann erklärt, wie schwierig es ist, aus den vielen Varianten der eigenen Aufnahmen auszuwählen, weil alles so schön ist. Ein Tontechniker nickt lächelnd. Im Hintergrund steht ein Plüschschaf.

0:09:35 „Der Jonas war speziell“, sagt Pianist Helmut Deutsch über Kaufmanns Aufnahmeprüfung an der Hochschule.

0:10:27 „Dein ist mein ganzes Herz“ schmettern Kaufmann und Lehár durchs Musikzimmer des Hauses. Lichtreflexe scheinen auf das Klavier, auf das versonnene Antlitz des Pianisten.

„Das erste worauf ich mich morgens konzentriere, ist der Kaffee.“

Jonas Kaufmann

0:12:12 Ob das nicht furchtbar laut unten in der Küche ist, frage ich mich. Hoffentlich schläft das Kind nicht gerade. Jonas Kaufmann reckt die Faust zum Spitzenton.

0:14:30 Nächstes Thema: Seine Liebe zu Kaffee. „Das erste worauf ich mich morgens konzentriere, ist der Kaffee.“ Verliebte Kamerafahrt über das Chrom der Espressomaschine. Ob Amazon gleich einen passenden QR-Code einblendet? Auf der Espressotasse steht „Kaufmann’s.“

0:15:13 Jetzt wird gekocht. Kochen ist gar kein Ausdruck: zelebriert. Und es wird gerochen, an Gewürzen. Der Kamera sagt er: „Wir kochen zusammen!“ Seine Frau steht daneben und schaut zu. Zu Rossinis Ouvertüre über Die diebische Elster brutzeln Scampi in der Pfanne.

0:17:06 „Kann man dir noch zuarbeiten?“ Seine Frau möchte ihm gern Zitronen schneiden. Darf sie aber nicht. Er ist so männlich in diesen heimischen Dingen. Hashtag Friedrich Merz.

0:18:32 Essen ist fertig! Der Produzent des Films und Rosamunde-Pilcher-Schauspieler Alexander-Klaus Stecher und seine Frau, die Moderatorin, Unternehmerin, „Höhle-der-Löwen“-Investorin, ehemalige Sängerin und Fernsehpromi Judith Williams kommen zum Essen. Auf der weißen Terrasse.

0:18:45 Ich brauche ein paar Sekunden, bis diese Frage sich kristallisiert: Warum sitzt der Produzent da eigentlich in seinem eigenen Film? (Spoiler: von nun an unentwegt bis zur letzten Sekunde.)

0:19:05 Ich googele Judith Williams, um meine Unkenntnis zu ändern. Erfolgreich geworden ist sie mit Teleshopping. Ein Schelm, wer … .

0:19:29 Alle rollen bühnentauglich die Augen über das wunderbare Essen.

Ausgelassenheit in Jonas Kaufmanns Garten.

0:19:50 Jonas Kaufmann erzählt einen sexistischen Witz über italienische Frauen mit Schnurrbärten. Alle lachen. Ich hol mir noch ein Glas Wein.

0:21:01 Er singt Heintjes „Maaaaama.“ Obwohl er sich vorher über Heintje lustig gemacht hat. Ob das bei allen so gut ankommt? Heintje ist ja schließlich Leitkultur. Obacht.

0:22:29 Während er noch das ganze Lied singt, frage ich mich, ob eigentlich der ganze Film die ganze Zeit bei Kaufmanns zuhause spielt. (Spoiler: ja.)

0:23:50 Lied fertig. Schnitt zurück aufs Essen. Moment, ist er während des Essens aufgestanden, um oben ein Lied singen zu gehen? Ist das nicht unhöflich? Und Helmut Deutsch muss die ganze Zeit da oben am Klavier sitzen, während die unten essen, und warten, ob Kaufmann zwischendurch singen will?

0:24:01 Jonas Kaufmann: „Beim Lesen komme ich runter.“ Alexander-Klaus Stecher: „Was liest du?“ Jonas Kaufmann: „Öh. Alles.“

0:24:33 Hat Helmut Deutsch eigentlich keinen Hunger?

0:24:59 Alles so wunderbar ungekünstelte Gespräche. Und wie wunderbar sie wie von Zauberhand chronologisch die Karrierestationen Kaufmanns nachzeichnen. Ob da etwa irgendwo ein Drehbuch auf dem Tischtuch neben dem Zierkürbis liegt?

0:25:25 „Sag mal Jonas, ist der Otello eigentlich die schwerste Opernrolle?“

Spoiler: Nachher wird auch noch Boot gefahren!

0:25:30 Kurzer Werbeblock für Kaufmanns DVD mit Verdis „Otello.“ Bestellinformationen werden im Untertitel eingeblendet. Danke.

0:26:22 Ich suche vergeblich die kleine Einblendung „Dauerwerbesendung“ am Rand.

0:27:15 Christiane Kaufmann wird gefragt, ob ihr Mann immer noch in seinen Rollen ist, wenn er dann abends nach Hause kommt. Sie holt Luft, er antwortet ausgiebig. Also eher ja.

0:30:00 Ich drücke auf Pause. Zwischenstand. Es geht jetzt eine halbe Stunde. Für wen ist das eigentlich? Das Heim des Künstlers. Die vielen inszenierten Fragen. Das inszenierte Kochen. Die zusammengeschnittenen Konzertausschnitte. Für die Fans, die endlich mal bei ihm zuhause schauen dürfen? Warum redet eigentlich nur er die ganze Zeit? Ein bisschen Biographie, dann wieder singen, singen, singen. (Spoiler: Nachher wird auch noch Boot gefahren!) Wäre es nicht interessant, etwas mehr über die künstlerischen Entwicklungen zu sehen, wenn wir schon die ganze Zeit im Tonstudio dabei sind? Oder mal einen seiner Regisseure zu Wort kommen zu lassen? Oder einen anderen Tenor? Oder – pardon – etwas Kritisches?

0:30:20 Jonas Kaufmann erklärt das Singen. Ok, das ist dann doch interessant.

0:31:03 Der nächste unkommentierte Schmachtfetzen. La Bohème, mit Anna Netrebko. Kameraschwenks auf verträumte Augen. Ungebrochene Schönheit. Wieviel Kitsch verträgt eine Künstlerdoku?

0:33:05 Kaufmann: „Begabung und Fleiß allein reichen nicht. Man braucht Glück, und auch Zufall.“ Interessante und ehrliche Einordnung des eigenen Ruhms.

0:36:13 Jetzt geht es um die Anekdote mit Angela Gheorghiu, damals in der New Yorker Tosca an der MET. Die darf natürlich nicht fehlen. (Kaufmann hatte in der laufenden Vorstellung die große Arie „E lucevan le stelle“ auf Bitten des Publikums zweimal gesungen. Gheorghiu ließ ihn daraufhin ebenfalls ordentlich warten und verzögerte ihren Auftritt, was Kaufmann aber charmant auffangen konnte. Kann man schön hier nachsehen. Ein bisschen Selbstkritik, dass man halt nicht unbedingt eine bekannte Arie inmitten einer Opernaufführung wiederholen muss, fehlt leider. Ein kurzer Kommentar Gheorghius zu der Szene fehlt auch.

0:38:24 Sein Medienmanager schwärmt wieder von seinem schauspielerischen Talent. Seine Frau auch. Seine Tochter auch. Wäre diese Doku eine Suppe würd ich sagen, es fehlt das Salz. Und mindestens ein Haar.

0:39:25 Es geht um Pagliacci bei den Salzburger Festspielen 2015, in der grandiosen Regie Philipp Stölzls. Der übrigens nicht erwähnt wird. Nur, dass Kaufmann es geschafft hat, so toll anders auszusehen, die Rolle so neu zu denken. Was übrigens eine Regieidee ist. Man hätte Philipp Stölzl kurz dazu befragen können. Muss man aber natürlich auch nicht.



0:41:53 Übers Schonen der Stimme: „Ich bin kein Fan von Over-Protection.“ Wenn Stimmbänder immer einen Schal um sich haben, werden sie sofort krank, wenn der Schal weg ist, sagt Kaufmann. Hätte interessant werden können, diese Passage ist jedoch nach nicht mal einer Minute auch wieder vorbei.

0:43:20 Das nächste Lied in voller Länge. Wie ist denn eigentlich so das Verhältnis zwischen Sprache und Gesang in dieser Doku? 50:50? Und hat Helmut Deutsch immer noch nichts zu essen bekommen?

0:46:30 Judith Williams raunt: „Musik ist ja mehr als etwas, das man nur hört.“ Mein Weinglas ist leer.

0:48:10 Wessen Ideen waren eigentlich diese ganzen stichwortgebenden Fragen? Von alleine, geschweige denn natürlich kommt hier gar nix.

0:48:57 Noch ein Lied. „Torna a surriento“ von Ernesto de Curtis. Williams spricht von Kaufmanns sensibler Seele. Schnitt auf die fließende Kamerafahrt um den leidend singenden Kaufmann herum. Diese überbordende Überdeutlichkeit erinnert mich irgendwie an den Goldbarock im Passauer Dom.

0:52:40 Alte Familienvideos.

0:53:45 Der Verdacht drängt sich übrigens unaufhaltsam auf, dass diese ganze Doku an nur einem Tag im Hause Kaufmann runtergedreht wurde.

0:54:15 „Wir wollen leben, und nicht irgendwelche Dokumentarfilmfiguren sein“, sagt Kaufmann über seinen filmwütigen Vater und dessen inszenierte Familienfilmchen. Quod erat demonstrandum.

0:54:52 Die Proseccogläser auf dem Küchentisch sehen aus, als wären sie mit dem Lineal drapiert worden. Die beiden Honigmelonen davor auch.

0:56:53 Auf der Einfahrt zum Anwesen wird nun Boccia gespielt. Geredet wird nicht mehr. Wenn jetzt ein Parfüm eingeblendet würde, es würde mich nicht wundern. Oder diese alte Diebels-Werbung, „ein schöner Tag!“. Oder Fleischwurst.

1:01:58 Unverhoffterweise kommt doch noch ein großer Moment in diesem Film: Anita Rachvelishvili und Jonas Kaufmann singen Modugnos Schlager „Volare“, auf der Waldbühne, 2018. Mein Highlight des ganzen Films. Anita Rachvelishvili ist wunderbar, sie lächelt, säuselt, tanzt, schwenkt, funkelt, fasziniert. Und stiehlt ihm leider jede Show. Jonas Kaufmann agiert zwar sympathisch, klingt aber leider wie Parsifal, nur auf Italienisch.



1:06:19 Schnitt. Plötzlich sitzen die beiden Kaufmanns mit Williams und Stecher auf einem Steg in einer Blumenwiese. „Wo willst du denn in 20 Jahren sein, Jonas?“ Mich fragt hier keiner, wo ich in 20 Minuten sein will. Immerhin geht die Doku nur noch 8 Minuten.

1:07:45 Erkenntnis: Es gibt keine ebenbürtigen Gesprächspartner. Vielleicht ist die Idee eines Gesprächspartners gar nicht die Idee dieses Films. Es sind eigentlich alles nur Statements. Und Werbung.

1:08:45 Jonas Kaufmann betont wie glücklich und bodenständig er ist. Als er über seine Freizeit redet, rüttelt er an seiner Frau: „Ich glaube, ich weiß sehr wohl, was ich mit meiner freien Zeit anfangen kann.“

1:09:01 Bodenständiger Schnitt auf das weißglitzernde Boot, das durch die weichen Wellen des Starnberger Sees gleitet. Zoom auf die rosé prickelnden Gläser. Dreißig lange Sekunden wird selig lächelnd über die seichten Wellen geschippert. Schnitt zu Nessun Dorma von der Waldbühne Berlin. Schon wieder. Diesmal aber in voller Länge. Und im Glitzersakko. Ich fühle nichts.

„Banale Alltagshandlungen werden als gottgleiche Ausführungen & Eingebungen dargestellt.“

"Klaus Peter", Amazon-User

1:12:38 Nessun Dorma ist vorbei. Der Film plötzlich auch. Alle klatschen. Muss ich auch? Hat noch jemand Interesse an Filmdramaturgie? Lieber nochmal ein Video vom Bötchen. Alle singen auf dem Boot. Schön.

1:14:45 Der Abspann ist vorbei. Um mich herum ist es still. Ich frage mich, wie André Rieu diesen Film finden mag. Ich hätte ihn gern mit ihm zusammen gesehen. Und hoffentlich hat Helmut Deutsch inzwischen was zu essen gekriegt.

Später. Mir fällt ein, dass es ja zum Firmenkonzept Amazons gehört, auch Kundenbewertungen zuzulassen. Guilty pleasure. „Klaus Peter“ vergibt zwei von fünf Sternen, bemerkt aber treffend: „Banale Alltagshandlungen werden als gottgleiche Ausführungen & Eingebungen dargestellt.“ Auch „Leseliesel“ vergibt zwei Sterne, aber „eigentlich nur ein Stern – ein weiteres Sternchen für die tolle Küche“. Gnadenloser und enttäuschter ist da „Thomas Friedel“. Ein Stern. „Schade dass Herr Kaufmann mit seiner Dauerwerbesendung auch eine mir wertvolle Erinnerung zerstört hat. Er war in Salzburg spontan für einen erkrankten Kollegen eingesprungen und hat einen wunderbaren Rodolfo gesungen… Nun wird diese Erinnerung zukünftig von den peinlich dumm gestellten Dialogen überlagert – Werbespot mit Überlänge.“ 33 Rezensionen vergeben aber auch 5 Sterne. Ich muss jetzt ins Bett. Over and out.

© Indi Herbst, www.jonaskaufmann.com
© Gregor Hohenberg / Sony Classical


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