Von Jesper Klein, 02.03.2020

Mit Ski und Schlittenhund

Im norwegischen Aurdal, gut drei Stunden von Oslo entfernt, veranstalten die Schwestern Eldbjørg und Ragnhild Hemsing ein Kammermusikfestival. Mit den intimen Konzerten möchten die Geigerinnen ihrem Heimatdorf etwas zurückgeben. Ein Besuch im verschneiten Norden.

Der Blick aus dem Hotelzimmer am morgen.

Bei welchem Klassikfestival kann man schon Hundeschlitten fahren? Oder mit Langlaufskiern zum Konzert kommen? Eigentlich hat das Hemsing Festival im norwegischen Aurdal schon gewonnen, bevor es überhaupt richtig angefangen hat. Was auch daran liegt, dass man als schnee- und winterentwöhnter Deutscher die gut drei Stunden Autofahrt von Oslo in den bergigeren Norden, durch Tunnel und an wunderschönen Fjorden entlang, allein deshalb genießt, weil hier Kilometer für Kilometer alles weißer und weißer wird. Und wenn man schließlich im Festivalhotel Nythun angekommen ist und am nächsten Morgen bei strahlendem Sonnenschein in die idyllisch-weiße Winterlandschaft blickt, dann ist die Welt mehr als in Ordnung.

Klassische Musik muss sichtbar sein, auch abseits der großen Zentren.

Eldbjørg Hemsing

Das Hemsing Festival, zu dem die beiden Schwestern Eldbjørg und Ragnhild Hemsing jedes Jahr nach Aurdal einladen, kann man zweifellos als Homecoming-Festival bezeichnen. Selbst wenn ihre Karrieren die beiden Geigerinnen bereits in die Welt hinausführten, Aurdal ist ihre Heimat. Und nach Hause kommen, das ist eben doch das Schönste. „Diese Region hat uns als wir Kinder waren so sehr unterstützt. Jetzt möchten wir ihr etwas zurückgeben, gerade diesem kleinen Dorf, in dem es fast keine Infrastruktur gibt“, sagt Eldbjørg Hemsing, die jüngere der beiden Schwestern. „Das ist eine Herausforderung, aber am Ende haben wir es geschafft, fast aus dem Nichts etwas aufzubauen.“

671 Einwohner:innen leben hier in Aurdal, einen Konzertsaal gibt es nicht. Die meisten Konzerte finden in der urigen Dorfkirche unten im Tal statt. Hier kann man zu Beginn eines jeden Konzerts sogar beim Glockenläuten zusehen. Selbst wenn die Region durchaus einige Festivals bereithält, mit dem Hemsing Festival kommt die Klassik nach Aurdal. „Klassische Musik muss sichtbar sein, auch abseits der großen Zentren“, sagt Eldbjørg Hemsing. „Am schönsten ist es zu sehen, wie viel das Festival für die Gemeinschaft hier bedeutet. Deswegen kooperieren wir mit den lokalen Firmen hier, wir sind ein Team.“

Klassik trifft Kulinarik

Das beginnt schon beim gemütlichen Festivalhotel Nythun, dessen Gastgeber:innen Marit und Jørn man natürlich beim Vornamen nennt und ohne die das Hemsing Festival nicht dasselbe wäre. Klassik und Kulinarik zu kombinieren, das hat in Deutschland durchaus einen Beigeschmack. Hier in Norwegen steht man dazu. Und so gibt es bei Marit und Jørn ein Frühstückskonzert mit Brot und Käse aus der Region und anderen musikalischen Häppchen, abends aber auch ein Vier-Gänge-Menü mit ausgedehnteren musikalischen Intermezzi. Das Quatuor Arod spielt Schubert und zum Abschluss des Dinners kommt mit Maurice Ravels improvisatorisch erweiterter Tzigane der Spaß nicht zu kurz. Das alles ist bodenständig und hat mit hochkulturellem Luxus wenig zu tun, selbst wenn der ein oder andere Norweger durchaus mit dem Tesla aus Oslo vorfährt. Rund ein Drittel des Publikums ist zum Kurzurlaub im Ferienhaus in der Region, ein Drittel lebt vor Ort, ein Drittel machen Tourismusgäste aus der ganzen Welt aus.

„Es geht nicht nur darum, ein Kammermusik-Festival 120 auf die Beine zu stellen“, sagt Ragnhild Hemsing, die Festivalchefin. „Es geht auch um Natur, Kultur und Tradition im Allgemeinen.“ Die nordischen Mythen um Thor und Co., die sich nicht erst seit Marvel bekanntlich großer Beliebtheit erfreuen, liegen hier geografisch quasi um die Ecke. Und die Namen der Schwestern? Eldbjørg, das ist die „Beschützerin des Feuers“, Ragnhild die „Beschützerin der Familie“. Und besonders die Natur hat hier alle Argumente auf ihrer Seite – trotz den spürbaren Auswirkungen des Klimawandels, die für einen milden und schneearmen Winter sorgen, wie die Einheimischen berichten.

  1. Ursprünglich wurde sie tatsächlich in Kammern gespielt, nämlich in den Privaträumen von Fürsten und Königen. Deshalb spielen in Kammermusik-Werken nur wenige Musiker, zum Beispiel als Streichquartett, Bläseroktett o.ä., zusammen. Bürger des 19. Jahrhunderts entwickelten aus der höfischen Elitekunst ihre Hausmusik, wie z.B. die „Schubertiaden“, die im kleinsten Kreis vor ausgewähltem Publikum stattfanden. (AJ)

In der Fischfarm Noraker Gård, einem Familienbetrieb, werden in der mittlerweile 14. Generation Forellen verarbeitet und fermentiert. Der sogenannte „Rakfisk“ gilt als norwegische Spezialität, die Festivalgäste können ihn in einem Lunchkonzert probieren. Besonders schön: Durch die Hardangerfiedel spiegeln sich die lokalen Traditionen auch musikalisch im Festivalprogramm. Ragnhild Hemsing serviert zu diesem Lunch eine Portion nordisches Lokalkolorit als musikalische Beilage.

Neun statt vier Saiten: die Hardangerfiedel.

Schon als Kind lernte Ragnhild Hemsing neben der klassischen Geigenausbildung das Spiel auf der neunsaitigen Hardangerfiedel, mit der die Volksmusik Norwegens eng verbunden ist. Bei diesem Instrument, das auf den ersten Blick wie eine bemalte Geige aussieht, erzeugen neben den vier Spielsaiten zusätzlich fünf Resonanzsaiten den charakteristischen vielstimmigen Klang. Gestimmt ist Ragnhild Hemsings Geige – na klar – nach dem Beginn von Edvard Griegs „Morgenstimmung“ aus dessen „Peer Gynt“. Von Generation zu Generation wird das Spiel auf der Hardangerfiedel weitergegeben, man lerne es in erster Linie über das Hören, erzählt Ragnhild Hemsing. Aus welcher Region ein Spieler oder eine Spielerin kommt, können geübte Hörer an den Melodien erkennen. Musikalische Dialekte sozusagen.



Bei all dieser familiären Idylle, über die wohl niemand, der einmal hier war, je etwas Schlechtes sagen wird, sollte man das programmatische Konzept nicht ganz außer Acht lassen. Mit „Freiheit und Transformation“ hat sich das Festival ein eher abstraktes Motto erwählt, unter das problemlos fast die gesamte klassische Musik eingeordnet werden könnte. Den roten Faden, der durch die Konzerte führt, hätte man etwas stärker weben können. Klar, immer wieder verleiht Ragnhild Hemsing mit der Hardangerfiedel den Konzerten eine lokale Farbe und mit der Musik Edvard Griegs liegt auch viel Nordisches in der Luft. Sonst liefert die Auswahl der Stücke von Bach über Haydn, Mozart und Beethoven bis hin zu Debussy und Schostakowitsch von allem ein bisschen. Das ist zwar nicht schlimm, führt aber dazu, dass man das Hemsing Festival in der programmatischen Detailarbeit nicht mit dem vergleichen kann, was Leif Ove Andsnes 300 Kilometer weiter westlich in Rosendal jährlich auf die Beine stellt. Vor ähnlich idyllischer Kulisse wurde dort im vergangenen Jahr Dmitri Schostakowitschs Leben und Musik von allen Seiten nahezu röntgenhaft durchleuchtet.

Eldbjørg und Ragnhild Hemsing im Interview

Bei den neunzehn Veranstaltungen des Hemsing Festivals spielt sich dafür alles auf einer persönlicheren Ebene ab. „Wir hatten den Traum, unsere musikalischen Freund:innen aus der ganzen Welt in unsere kleine Heimatstadt einzuladen“, sagt Ragnhild Hemsing. Und Eldbjørg ergänzt: „Diese intimen Begegnungen machen die Identität des Festivals aus. Das Publikum ist so nah dran – es kann das Atmen der Musiker:innen hören und ihre Interaktion miteinander sehen. Das ist vielleicht ein bisschen old-school, aber das müssen wir uns bewahren.“

Die Qualität der musikalischen Beiträge ist grundsätzlich mehr als zufriedenstellend. Vor allem, wenn man bedenkt, dass viele der Formationen sich erst für dieses Festival gefunden haben. Neben dem etablierten und selbstverständlich eingespielten Quatuor Arod aus Frankreich, das mit der Musik von Wolfgang Amadeus Mozart und Anton Webern gleichermaßen intensive Kammermusikerlebnisse bietet, ist es insbesondere der deutsche Bariton 26 Johannes Kammler, der mit seiner theatralen Ausdruckskraft und immer textverständlichen Artikulation große Freude bereitet. Neben diesen Glanzlichtern gibt es aber auch ein paar entbehrliche Programmpunkte. Der Pianist Hyung-ki Joo etwa garniert seine Auftritte mit reichlich Show und nach seinen komponierten Grieg-Reflektionen wünscht man sich doch lieber das Original zurück. Das ist aber bei weitem kein Grund für schlechte Laune. Und falls die doch einmal aufkommen sollte, stimmt der Blick in die Winterlandschaft ganz schnell wieder milde.

  1. Er kommt nicht richtig hoch und nicht richtig tief oder um anders zu sprechen: Er ist Meister der angenehmen, wichtigen Töne. Der Bariton ist die mittlere männliche Stimmlage zwischen Tenor und Bass. In der Oper gibt es ihn zum Beispiel in lyrischer und heldenhafter Ausprägung. (MH)

© Nikolaj Lund
© Kachel und Außenaufnahmen: Jesper Klein
© Interview: Hasko Witte


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