Von Jesper Klein, 07.01.2020

Zwischen Ost und West

Russland, Armenien, Malta. Bei der Europatournee des Armenian State Symphony Orchestra treffen ganz unterschiedliche Nationen aufeinander. Wir haben Weltklassegeiger Maxim Vengerov zu diesem ungewöhnlichen Projekt, das Kulturen verbinden soll, befragt.

niusic: Herr Vengerov, Sie sind nun Artist in Residence beim Armenian State Symphony Orchestra (ASSO). Was ist das Besondere an diesem Orchester im Vergleich zu den vielen anderen, mit denen Sie schon aufgetreten sind?
Maxim Vengerov: Das Armenian State Symphony Orchestra besteht aus jungen, sehr talentierten Musikern. Es ist fast noch ein Jugendorchester, mit großem Potenzial. Ich kenne das Orchester seit mittlerweile zehn Jahren. Den Chefdirigenten, Sergey Smbatyan, kenne ich, seit er Anfang zwanzig ist. Mit dem Orchester habe ich als Violinist und auch als Dirigent zusammengearbeitet. Es ist eine persönliche Beziehung entstanden, was für mich sehr wichtig ist. Da es diese starke Verbindung zum Orchester gibt, freue ich mich sehr, mit ihm im Januar auf Europa-Tournee zu gehen.

Sergey Smbatyan, Chefdirigent des ASSO

Das Armenian State Symphony Orchestra bedient ein sehr breites Repertoire: Klassische Musik steht neben zeitgenössischen armenischen Komponisten. Doch typisch armenisch, was heißt das? „Charakteristisch für die armenische Musik sind die verschiedenen Einflüsse. Die europäische und die russische Komponistenschule haben beide einen Einfluss auf die Entwicklung der armenischen Musik“, sagt Sergey Smbatyan. Diese Vielfalt spiegele sich auch in den Konzertprogrammen wider. „Wir bauen neben klassischen Stücken auch weniger bekannte armenische Musik in unsere Programme ein. So geben wir unserem Publikum eine Möglichkeit, neue Entdeckungen zu machen. Trotzdem gestalten wir unsere Konzerte so, dass die verschiedenen Programmpunkte gut miteinander harmonieren.“

niusic: Zu den Hauptanliegen des ASSO zählt es, das Ost-West-Gefälle zu überwinden. Inwieweit kann Musik dabei helfen?
Vengerov: Zwischen Ost und West gibt es heutzutage kaum Unterschiede. Aber wir wissen zum Beispiel, dass die meisten Teilnehmer an Musikwettbewerben aus Asien kommen. Vor dreißig Jahren war das noch anders, da waren es bei weitem nicht so viele. Vor dreißig Jahren wäre es am Konservatorium in Peking auch nicht erlaubt gewesen, Beethoven zu spielen. Wenn man Beethoven oder ein anderes Stück der westlichen klassischen Musik spielen wollte, musste man das im Verborgenen tun. Man konnte nur die klassischen chinesischen Instrumente spielen. Es ist verblüffend, dass sich heutzutage so viele junge Menschen am Konservatorium in Peking für die westliche klassische Musik interessieren. Die Musikerinnen und Musiker aus Asien sind neugierig und wollen sich in die westliche Klassikwelt integrieren. Durch diesen kulturellen Austausch lernt man sich besser kennen. Ich bin nicht der Meinung, dass der Westen ein vergleichbares Interesse an der Musik des Ostens entwickelt hat. Es ist bemerkenswert, dass der Osten hier die Führungsrolle übernimmt.

Wenn wir an armenische Komponisten denken, fällt uns womöglich Aram Chatschaturjan ein, das war es dann aber auch. Wen sollte man noch kennen?
Vengerov: Auf unserer Europatournee kann sich das Publikum darauf freuen, John Ter-Tatevosians zweite Sinfonie „The Fate of Man“ zu hören, ein gefühlsvolles Stück, das auf einer gleichnamigen Kurzgeschichte von Mikhail Sholokhov basiert. Es geht um einen Trucker, der sich im Zweiten Weltkrieg der Armee anschließt und in einem Konzentrationslager gefangen gehalten wird. Es ist ein außergewöhnliches Stück, das nicht oft gespielt wird.

Sie spielen außerdem Werke von Alexey Shor, einem Zeitgenossen. Was ist dabei das Besondere?
Vengerov: Ja, denn auch seine Werke schätze ich sehr. Es ist sehr melodische Musik, die sich mit der Natur auseinandersetzt. Shors Musik spricht für sich selbst durch die Bilder, die sie vermittelt.

Der amerikanisch-maltesische Komponist Alexey Shor bringt eine neue Farbe in dieses multinationale Projekt, bei dem sich Kulturen und Nationen begegnen. Beide Stücke, die Shor für das ASSO geschrieben hat, setzen sich mit dem Wasser auseinander. Eines der Stücke, eine Barcarolle, wurde vom Fort St. Elmo auf Malta inspiriert, blutiger Schauplatz während der Belagerung Maltas durch die Osmanen im 16. Jahrhundert. Shor sieht die Wurzeln seiner Musik im klassischen und romantischen Repertoire des 18. und 19. Jahrhunderts. Wie er seine Musik beschreiben würde? „Neoklassisch oder postmodern, habe ich als Bezeichnungen schon gehört, aber ich bin mir nicht sicher, ob das passende Beschreibungen sind.“ Und das selbstzugeschriebene Hauptanliegen des ASSO, Osten und Westen einander näherzubringen? „Ich glaube nicht an ein Ost-West-Gefälle. Musik ist universell, auf der ganzen Welt werden mehr oder weniger dieselben Komponisten verehrt.“

Maxim Vengerov

niusic: Auf der Europa-Tournee spielen Sie auch das Violinkonzert von Max Bruch und Maurice Ravels „Tzigane“, beides recht bekannte Stücke. Wie schwierig ist es, bei solch einem Repertoire immer wieder einen frischen Zugang zu finden?
Vengerov: Jedes Mal wenn ich ein Stück spiele, versuche ich, es so zu spielen, als wäre es das erste Mal. Manchmal muss man Stücke aber auch ein wenig liegen lassen. Max Bruchs Violinkonzert habe ich gespielt, als ich etwa dreiundzwanzig war; danach habe ich es gut zwanzig Jahre nicht mehr angefasst. Als ich es wieder aufgegriffen habe, war es für mich ein ganz neues Konzert. Dasselbe gibt für das Violinkonzert von Felix Mendelssohn, auch das habe ich mehr als zwanzig Jahre lang nicht gespielt, jetzt ist es wieder in meinem Repertoire. Das gilt auch für die Konzerte von Tschaikowski und Brahms. Für mich ist es wichtig, frisch zu bleiben. Wenn man jeden Tag dasselbe spielt, verliert man etwas das Gespür für die Stücke. Musik darf nie zur Routine werden. Ich habe das Glück, dass ich auch als Dirigent aktiv bin, da habe ich nochmal ein anderes Repertoire. Das ist der Grund, warum mir nie langweilig wird, selbst wenn ich dieselben Stücke immer und immer wieder spiele.

Wenn sie sich entscheiden müssten: dirigieren oder selbst spielen?
Vengerov: Mit meinen Lehrtätigkeiten kann ich insgesamt aus drei verschiedenen Perspektiven auf die Musik schauen. Als Violinist spiele ich selbst, als Dirigent ist das Orchester mein Instrument. Lehren ist dann nochmal etwas anderes. Hinter allem steht die Idee, dass es beim Musikmachen darum geht, seine Leidenschaft und Liebe dazu mit anderen zu teilen.

Das ASSO in Europa

Die Termine der Europatournee des Armenian State Symphony Orchestra mit Maxim Vengerov:
08.01.20, 20:00 Uhr: Gasteig München
09.01.20, 19:30 Uhr: Großes Festspielhaus Salzburg
10.01.20, 20:00 Uhr: Beethoven-Saal Liederhalle Stuttgart
12.01.20, 20:00 Uhr: Philharmonie Berlin
14.01.20, 19:30 Uhr: Barbican Hall London
17.01.20, 19:30 Uhr: Musikverein Wien

© Hero: Lusine Sargsyan
© Vengerov: Benjamin Ealovega
© Smbatyan: ASSO


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