Von Thilo Braun, 08.10.2019

Emotionale Irrfahrten

Kaum ein Sänger hat eine so steile Karriere hingelegt: Mit 26 Jahren veröffentlicht Konstantin Krimmel jetzt seine Debüt-CD mit romantischen Schauerballaden, gibt Liederabende von London bis Köln. Forciert hat er den Erfolg nicht – es hat sich so ergeben.

Konstantin Krimmel kommt in allerletzter Sekunde auf dem Fahrrad angedüst, neben uns donnert der Nachmittagsverkehr vorbei. Wir stehen am Charlottenplatz, einem der Verkehrsknotenpunkte der Stadt: U-Bahnen und Bundesstraßen auf vier Etagen im Herzen der Stuttgarter Innenstadt. Auch die Musikhochschule, an der Krimmel studiert, ist nur einen Katzensprung entfernt. „Gehen wir rein?“, durch ein großes Steintor betreten wir einen Innenhof. Verblüffende Stille. Kleine Büsche und Bänke, vom Himmel strahlt die Herbstsonne, Tassenklappern und Stimmengewirr in der Luft.

Rein optisch könnte man Konstantin Krimmel als eine Mischung zwischen Jesus und einem Hipster beschreiben. Lange, braune Haare und Vollbart, zur blassgrünen Hose ein Leinenhemd mit hellblauen Streifen, die obersten Knöpfe offen. Zwei Tage nach unserem Gespräch fliegt Krimmel nach London, er singt den Jesus in Händels „Brockes Passion“. Ob er deshalb die Mähne wachsen lässt? „Nee. Hat sich irgendwie so ergeben.“

Irgendwie ergeben haben sich in den vergangenen Jahren einige Dinge im Leben Konstantin Krimmels. Kommilitonen aus der Stuttgarter Musikhochschule hört man sagen: eine so steile Karriere in so kurzer Zeit, das sei extrem selten. Spätestens seit er vergangenes Jahr den Deutschen Musikpreis gewonnen hat, fragen immer größere Häuser an: Köln, Amsterdam, Barcelona, London. Krimmel ist 26 Jahre jung, gerade ist seine erste Solo-CD mit Liedern beim Label alpha Classics erschienen. Das Studium läuft eher nebenher, nächstes Jahr wird er fertig.

Vor sieben Jahren waren die Haare noch kurz. Neun Millimeter mit der Maschine, um genau zu sein. Konstantin Krimmel trägt Bergstiefel und Uniform, schläft bei minus 20 Grad Außentemperatur tagelang im Biwak, irgendwo im Mittenwald. Krimmel hat sich nach dem Abitur als Gebirgsjäger bei der Bundeswehr verpflichtet. „Ich wusste nach dem Abi nicht, was ich machen soll.“ Sport und Berge, das habe ihm gefallen. „Und dann dachte ich mir eben: Okay, Bundeswehr. Schau ich mir den Laden halt mal an.“

Konstantin Krimmel trägt Bergstiefel und Uniform, schläft bei -20°C tagelang im Biwak, irgendwo im Mittenwald.

So schlimm sei es gar nicht gewesen. „T-Shirts falten mit Schablone“ habe er gelernt, in anderen Abteilungen ging es aber entspannter zu. Einmal trockneten Kameraden Würste an der Wäscheleine. Und doch fehlte etwas. „Von hundert auf null war auf einmal keine Musik mehr da.“

Musik, das war für Konstantin Krimmel bis dahin ein reines Hobby gewesen. Auch wenn sie immer eine wichtige Rolle spielte. Mit vier Jahren tritt er den St. Georgs Chorknaben in Ulm bei, später kommen als Instrumente Klavier und Fagott dazu. „Einfach so“. Die Musik zum Beruf zu machen, stand nie zur Debatte: „Ich bin das älteste von vier Kindern. Mein Vater hat sein Leben lang geschuftet, sich von der Hauptschule hochgearbeitet zum Rektor einer Realschule in Ulm. Wenn der älteste Sohn mit so ner Idee wie Musikstudium ankommt, wird das erstmal nicht so gut angesehen.“ Krimmel versucht, Musik und Bundeswehr miteinander zu verbinden und bewirbt sich als Fagottist beim Musikkorps. Das misslingt, also verlässt er die Bundeswehr.

Während Krimmel erzählt, verengt er seine Augen immer wieder zu kleinen Schlitzen und fokussiert einen Punkt irgendwo in der Ferne. Als sei es auch für ihn schwer zu fassen, wie der Konstantin Krimmel von damals zum gefeierten Nachwuchssänger von heute werden konnte.
Im Extrachor der Ulmer Oper findet Konstantin Krimmel nach der Bundeswehr Anschluss und entdeckt dort seine Leidenschaft für den Gesang neu. Der Chorleiter empfiehlt ihm ein Gesangsstudium. Krimmel zögert. Auch seine Gesangslehrerin an der Musikschule ermuntert ihn. Krimmel zweifelt. Dann sagt der Chorleiter des Knabenchores: „Los, jetzt mach mal!“ Und los geht es.

„Es sind immer die anderen“ sagt Doriana Tchakarova und lacht. Die Pianistin Tchakarova ist die Duopartnerin von Krimmel und hat sich gerade an unseren Tisch gesellt. Bei einem Hochschulwettbewerb in Stuttgart hört sie Krimmel zum ersten Mal: „Er hat gesungen mit so viel Seele, so viel Musikalität. Das hat mich sehr fasziniert, das werde ich nie vergessen.“ Die beiden beginnen, gemeinsam zu musizieren, zunächst im Korrepetitionsunterricht, dann folgen erste Auftritte. Was sie verbindet ist ihre gemeinsame Liebe zum Kunstlied.
Doriana Tchakarova steht nicht gerne im Mittelpunkt. Sie antwortet kurz, lässt Krimmel den Vortritt. Und doch spürt man, was für eine wichtige Rolle Tchakarova in diesem Duo einnimmt. Sie strahlt eine wohltuende Offenheit aus, mit ihren warmen Augen, ihrem freundschaftlichen Lachen. Seit Jahrzehnten ist sie als Pianistin und Liedbegleiterin aktiv. Trotzdem versucht sie nicht, Krimmel zu lenken. „Man muss ihn machen lassen.“

Vielleicht sind die beiden deshalb ein gutes Duo. Sie schenken sich ihre Freiräume, auch in der Musik. Sie genießen es, den Moment zu erspüren und instinktiv Entscheidungen zu treffen. „Es ist ein Geben und Nehmen. Er folgt meinen Impulsen und ich wieder seinen.“ Natürlich würden sie eine gemeinsame Idee von der Interpretation eines Werks erarbeiten. Aber einen exakten Plan? Konstantin Krimmel lacht: „Selbst wenn wir es ausmachen würden, daran würde sich niemand halten.“

„Ich bin ein wahnsinniger Fan von ‚Herr der Ringe‘ und Fantasy. Ich würde so gerne mal eintauchen in diese Welt.“

Konstantin Krimmel

Spontaneität. Kein Orchester, keine Mitsänger, „nur zwei Menschen“ auf der Bühne – das ist ein Grund für Krimmels Begeisterung für das Kunstlied. Ein anderer ist seine Freude an guten Geschichten. „Ich bin ein wahnsinniger Fan von ‚Herr der Ringe‘ und Fantasy. Und denke mir oft: Ich würde so gerne mal da hin und eintauchen in diese Welt.“ Auf seiner Debüt-CD singt Krimmel hauptsächlich Balladen; von Franz Schubert, Robert Schumann, Adolf Jensen und Carl Loewe. Es sind Paradebeispiele der Schauerromantik, Geschichten aus dem Zauberreich von Loreley und Erlkönig, voller Eifersucht, Mord und Spuk. „Liebe und so, das können andere gut. Aber etwa die ‚Gruppe aus dem Tartarus‘, wo du komplett ausrasten kannst, das liegt uns irgendwie.“



Ohne Doriana Tchakarova hätte es diese Debüt-CD vielleicht nie gegeben. Denn sie ist es, die Krimmel immer wieder zu Wettbewerben drängt und seiner Karriere damit den nötigen Schub gibt. „Ich war mir nicht so sicher, ob das jetzt schon ein guter Zeitpunkt ist“, sagt Krimmel. „Sie war dann aber doch recht konsequent ...“
Sie versuchen es im Juni 2016 beim internationalen Haydn-Wettbewerb in Österreich – und gewinnen prompt den ersten Preis. Krimmel fasst Mut, weitere Wettbewerbe folgen, wieder regnet es Auszeichnungen. Darunter ein erster Preis beim Helmut Deutsch Liedwettbewerb und ein zweiter beim Wettbewerb „Das Lied“ in Heidelberg.
Das Label alpha Classics wird auf den Sänger aufmerksam, Manager Didier Martin ist so überzeugt von den beiden Musikern, dass er bei der Konzeption des Albums völlig freie Hand lässt.



Der Erfolg Krimmels kann verblüffen. Wieso öffnen sich gerade ihm, der nie die große Karriere im Sinn hatte, alle Türen? Was fesselt die Menschen so an seinen Auftritten? Konstantin Krimmel hat eine tolle Stimme, keine Frage. Ein kräftiger, in allen Lagen warm fließender Bariton, wandlungsfähig und farbenreich. Wer sein Publikum derart verzaubert, muss aber irgendetwas besitzen, das darüber hinausgeht. Etwas, das an tiefere Sehnsüchte und Wünsche der Menschen rührt.
Vielleicht liegt es an der beinahe naiven Ernsthaftigkeit, mit der Krimmel seine Geschichten erzählt. Mit ganzer Seele taucht er in die Welten und Figuren seiner Lieder ein, leidet, lacht und liebt mit ihnen. Er schenkt seinen Zuhörern die Möglichkeit, einen Moment dem Alltag zu entfliehen und in den emotionalen Irrfahrten seiner Geschichten zugleich alle Extreme menschlicher Empfindungen zu durchleben. Krimmel erzeugt die Überwältigung des Publikums nicht aus Kalkül, sondern aus dem Affekt heraus. „Ich lasse Dinge gerne auf mich zukommen“, sagt er. Eine Flexibilität, die nicht zur Beliebigkeit wird, da Krimmel den Blick behält auf Dinge, die ihm wirklich am Herzen liegen. Was wünscht er sich für die Zukunft?

„Mich zieht es raus in die Natur“, sagt Krimmel. Am liebsten würde er auf einem Bauernhof leben, wie er es als Kind bei der Verwandtschaft seiner Mutter in Rumänien erlebt hat. „Da rannten im Hof Hunde und Hühner rum, Kühe waren da und Schafe. Falls sich das kombinieren lässt“, sagt Krimmel und klopft beschwörerisch auf den Holztisch, „freie Projekte als Sänger, aber trotzdem in der Natur leben. Das wäre ein Traum.“

Fotos im Artikel: © Maren Ulrich
Titelbild: © Daniela Reske / alpha Classics


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