Von Christopher Warmuth, 24.10.2016

Schneller, höher, weiter

Wenn ein Major-Label eine Siebzehnjährige unter Vertrag nimmt, läuten die Alarmglocken: Es gibt Horrorgeschichten über verheizte Stars, die drei Jahre in den Olymp gejubelt werden, um dann wieder fallen gelassen zu werden. Doch hier ist es umgekehrt: Hoffen wir, dass das Label Decca Lucie Horsch gewachsen ist.

Hochvirtuose Sechzehntelketten ziehen sich wie Girlanden durch die Barockwerke.

Ja, jeder denkt es sei ein Kinderinstrument. Ja, bei dem Wort „Blockflöte“ zucken alle zusammen, an grauslig-furchtbare Schulaufführungen denkend. Ja, das schlichte Holzinstrument kann mehr. Über solche Klischees will Lucie wirklich nicht sprechen. Sie würde es schon tun, ist aber heilfroh, atmet erleichtert ein breites Grinsen heraus, als das Thema gewechselt wird. Die holländische Blockflötistin Lucie Horsch hatte heute schon einen Termin beim Kinderkanal in Deutschland, ist deshalb extra mit ihrer Mutter aus Amsterdam nach Deutschland geflogen. In dieses Fernsehformat passt sie bestens, natürlich auch wegen genau solcher Klischees. Dazu kommt, dass sie siebzehn ist. Ein „Kinderstar“?
Ob man mit fast zwanzig noch ein Kind ist, wage ich zu bezweifeln und selbst wenn sie in diese Definitionsschublade fallen sollte, wird sie in kürzester Zeit das Gegenteil beweisen. Biologisches Alter hat hier nichts mit Intellekt zu tun. Aber eins nach dem anderen: Lucie ist talentiert, und gerade wird alles dafür getan, dass sie berühmt wird. Auf ihrer Debüt-Platte rast sie durch Antonio Vivaldis Stücke – hochvirtuose Sechzehntelketten ziehen sich wie imposante Girlanden durch die Barockwerke 27 .

  1. Reifrock, Puder, Mätressen und Schampus. Willkommen im Barock. Musikalisch endet diese Epoche mit dem Tod von Johann Sebastian Bach. Die Musik ist mathematisch komplex geführt, ergötzt sich an Verzierungskunst und wurde häufig für die Kirche komponiert. Der Barock bietet aber mehr als Schwulst und Erhabenes. (CW)



Das ist auch privat genau ihr Tempo. Sie hechtet aus dem Taxi, drückt mir im Vorübergehen beherzt die Hand und sprintet an mir vorbei auf direktem Weg ins Konferenzzentrum am Flughafen Berlin-Schönefeld. Sie weiß ganz genau, wo sie hin will. Obwohl sie hier noch nie war. Intuitiv hat sie ein Ziel vor Augen, sie scheint ihr ganzes Umfeld im Blick zu haben. Lucie hat beim Label Decca einen Vertrag unterschrieben. In den ersten zehn Minuten unseres folgenden Spaziergangs – der Konferenzraum wirkte erdrückend unkreativ auf sie – wird „contract“ das am häufigsten genannte Wort sein. Mit siebzehn Jahren?

Ja. Sie habe ja bereits zwei Jahre gewartet, bis sie sich dazu entschlossen hat. „Das kommt nicht so überraschend. Die Leute denken immer, man wird wie ein Model auf der Straße gescoutet. Aber das hatte ja eine Vorgeschichte“, sagt Lucie. „Im Endeffekt habe ich mich für Decca entschieden, weil sie auch in den zwei Jahren regelmäßig mit mir gesprochen haben, sich nach mir erkundigt haben. Ich vertraue dem Label“. Während sie spricht, blickt sie konzentriert auf den Boden, die Hände in die grauen Jackentaschen gesteckt. Es wirkt, als würde sie sich an ihrer Jacke festhalten wie an Wanderstöcken, damit sie das Tempo überhaupt halten kann. Eigentlich ist das Flughafengelände ja nicht alltäglich, minütlich werden Flieger in die Luft entlassen, mit Getöse der Triebwerke. Jeder kennt die kleinen und ganz großen Kinder, die vor dem Abflug an der Scheibe kleben wie Guppies im Aquarium. Lucie interessiert das nicht. Sie erzählt konzentriert. Im Gehen. Mehr nicht.

„Meine Freundinnen haben Verständnis für das, was ich mache. Sie kommen auch oft zum Konzert.“ Ob die aber nicht doch etwas verwundert wären, dass man mehrere Stunden am Tag Barockmusik übt? „Nein. Für die ist das so, als sei es Sport. Dafür trainieren ja in unserem Alter auch genügend Leute sehr lange am Tag“, sagt sie. Dass Sport etwas anderes sei als Musik machen, weiß sie natürlich. Aber das war ja auch nicht die Frage. Sie antwortet präzise, denkt sich dabei mehr, wie sich beim Nachfragen offenbart, aber antwortet eben nur auf die Frage.



Ihre Stimme hallt in den Verwaltungsgebäuden auf dem Nebengelände des Abflugfeldes sehr lange nach. Lucie spricht bestimmt, beherzt und laut. Ab und an schaut sie auf, lacht, gerade dann, wenn sie merkt, dass ihr Gegenüber sie versteht. Vielleicht passiert das nicht ganz so häufig mit Gleichaltrigen. Mal ehrlich, wie kommt man als kleines Kind dazu, mehrere Stunden am Tag zu üben? Das ist ja wirklich nicht normal. Sie lacht: „Nein. Ich hatte da auch sicher nicht immer Lust drauf. Aber ich bin unendlich froh, dass meine Eltern mir das spielerisch ermöglicht haben. Musiküben ist wie Zähneputzen. Das macht man als Kind ja auch nicht so gern. Aber ohne geht es nicht und später ist es etwas ganz Natürliches“. Musik gehört für sie dazu. Sie kann wirklich nicht sagen, was sie ohne machen würde. Die Frage stellt sich auch nicht. Sie spielt nämlich auch noch ausgezeichnet Klavier, das sie neben der Flöte am Conservatorium van Amsterdam studiert, und hat dazu noch unter den größten Dirigenten der Welt im Kinderchor mitgesungen. Und sie wird sicher nicht auf das Klavier verzichten. „Ich werde jetzt nach meinem Abitur meinen Master in Blockflöte machen und parallel noch Klavier studieren. Die beiden Instrumente liegen sehr weit voneinander entfernt, aber das eine beeinflusst das andere. Das ist unglaublich spannend“. Danach will sie vielleicht noch Philosophie studieren, über den Tellerrand blicken, so, wie das eben bei der Musik der Fall ist. „Das kann man auf alles anwenden. Da wird man kein Fachidiot."

Sie ist kein Wunderkind, das von den Eltern durch den Klassikmarkt getrieben wird. Lucie ist eher der Typ, der unentwegt aufs Gas drückt. Weil sie es kann.

Die Mutter von Lucie, alles andere als eine Virtuosenmama, passt uns ab, entschuldigt sich mehrere Male für die Störung und schlägt vor, dass wir zusammen zum Flughafen laufen – wobei wir natürlich separat gehen sollen, sie wolle uns nicht ablenken –, damit die beiden den Flieger auch wirklich bekommen. Kein Problem. Aber dann bleibt Lucie stehen. „Ohh. Mama schau!“. Ein Fuchs sitzt im Gras, vielleicht zwanzig Meter entfernt, und hat uns anvisiert. Alle bleiben stocksteif stehen. Lucie legt ihr Kinn auf die Schulter ihrer Mutter und visiert zurück. Die Szene dauert ein bis zwei Minuten. Sofort muss die Mutter ihr Handy holen und fotografieren. Zum Glück erklärt ihr die Tochter, mit welcher App das geht. Wiederum sehr bestimmend. Ob sie Angst vor dem Fuchs habe? „Pff. Nein. Der ist total süß“. Auf dem Rückweg blickt sie sich noch manchmal um, ob der Fuchs noch da ist, erzählt von den Zukunftsplänen, die erst einmal ein paar CDs beinhalten und ihr Studium. Sie ist sehr selbstkritisch: „Es ist relativ einfach, auf der Blockflöte schnell zu spielen. Ich will mich in den nächsten Jahren noch mehr auf die Klangmöglichkeiten konzentrieren“. Dabei soll ihr auch die zeitgenössische Flötenmusik helfen, die wiederum ihr Barockspiel verändern soll. Am Terminal angekommen, erfahre ich, dass sie nächste Woche zwei Schularbeiten schreiben muss, für „Deutsch“ hat sie noch sehr wenig gelernt. Druck? Ja. Anspannung? Keine Spur.

Qualität braucht Durchhaltevermögen und eben auch ein Quäntchen Druck. Bei Lucie kommt der, allem Anschein nach, von ihr selbst. Sie ist kein Wunderkind, das von den Eltern durch den Klassikmarkt getrieben wird. Lucie ist eher der Typ, der unentwegt aufs Gas drückt. Weil sie es kann.


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Antonio Vivaldi

VIVALDI

Lucie Horsch, Amsterdam Vivaldi Players

Decca

© Dana Van Leeuwen


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