Von Malte Hemmerich, 04.06.2019

Kein Mann für einen Abend

Der Dirigent Paavo Järvi erzählt, was er am Klang des Tonhalle Orchesters Zürich verbessern will, wie er mit Orchestern arbeitet – und warum andere Musiker auf ihn neidisch sein können.

Paavo Järvi kommt aus einer Musikerfamilie und ist auf gutem Wege, seinen umtriebigen Vater als fleißigsten Dirigenten aller Zeiten abzulösen. Jetzt ist er auch noch Chef des Tonhalle Orchesters Zürich geworden. Nach Proben in der Elbphilharmonie hat er tatsächlich einen halben Tag Zeit für sich. Eigentlich Luxus für den Dirigenten. Doch statt dann wie normalerweise seine Kräfte zu regenerieren und viel zu schlafen, hat er sich Zeit für ein Interview genommen.

niusic: Herr Järvi, Sie sagten mal in einem Interview, dass Dirigentsein ein lächerlicher Job sei. Was war heute denn lächerlich oder seltsam?
Järvi: Tatsächlich war heute bisher ein guter Tag, denn ich musste nicht um sechs Uhr aufstehen und fliegen. Also diese Lächerlichkeit, das ist keine Frage der Arbeit selbst, sondern des Reisens. Gestern zum Beispiel hatte ich eine Probe in der Elbphilharmonie und war morgens noch in Paris. So etwas meine ich. Das ist anstrengend.

niusic: Tauscht man sich über diese Probleme auch mit den ebenfalls vielbeschäftigten Kollegen aus, wie Gergiev, Barenboim und Co?
Järvi: Klar, ich bin befreundet mit vielen berühmten Kollegen und wir sprechen so oft es geht. Manchmal sind wir in derselben Stadt, oft bei Asientourneen, wenn Orchester sich die Klinke in die Hand geben. Abgesehen davon liebe ich es, ins Konzert zu gehen und die Kollegen zu hören. Heute Abend zum Beispiel Daniel Barenboim hier in Hamburg. Immer, wenn ich Zeit habe, setze ich mich ins Publikum ...

niusic: Um den Anschluss an die Realität nicht zu verlieren?
Järvi:Ich sehe dann das Orchester reinkommen, das Licht ausgehen und spüre gespanntes Warten. Für mich ist das neu und aufregend. Sonst stehe ich zu der Zeit Backstage, bin auch unter Strom, doch ganz anders. Da ist das Motto dann Auf in den Kampf!
Es ist also entscheidend für mich, oft im Saal zu sitzen und mir klar zu machen: In jeder Stadt, jeden Abend warten wieder Menschen auf das besondere Erlebnis, das wir ihnen bieten sollten.

niusic: Viel hängt da ja auch am Programm. Beim Tonhalle Orchester Zürich, Ihrem neuesten Chefposten, unterstützt man Sie auch in der Programmplanung.
Järvi: Für mich ist Programmplanung, ebenso wie das Dirigieren, am Ende kein Job für ein Komitee. Es geht ja nicht nur um die Stücke, die gespielt werden, sondern wo das Orchester in fünf Jahren stehen soll, welches Repertoire erschlossen wird und die ganze Tourneeplanung. Ich will da immer sehr langfristig denken.

niusic: Deshalb sind Sie lieber Chefdirigent bei guten Orchestern, als übermorgen dreimal mit den genialen Berliner Philharmonikern aufzutreten?
Järvi: Natürlich liebt man jeden Job mit den Berlinern. Aber Chefdirigent zu sein ist eine viel größere Verantwortung. Als Gast kann man nicht viel verändern. Gute Abende gestalten und grandiose Konzerte spielen, das ja, aber es ist nicht deine Aufgabe, das Orchester zu bewegen und weiterzuentwickeln, wie sie spielen oder denken. Das reizt mich aber!

niusic: Nochmal zur Programmplanung in Zürich: Tschaikowskis Erste hat hörbare Schwächen, trotzdem haben Sie sie ins Programm genommen...
Järvi: Weil ich sie liebe. Wenn man seine erste Sinfonie schreibt, man nehme Bruckner und Mahler, komponiert man ja irgendwie immer etwas unreif und naiv. Aber gerade das ist charmant. Meine Meinung.
Der Dirigent muss dann aber dem Stück helfen. Klingt komisch, aber jedes Werk braucht Hilfe. Klar ist eine mittelmäßige Aufführung von Beethovens Siebter aufregend, aber eine wirklich grandiose ist himmlisch ... Und bei den frühen Werken eines Komponisten braucht man tatsächlich einfach die besseren Dirigenten!

niusic: Inwieweit würden Sie dann in den Notentext eingreifen?
Järvi: Hm. Ein beliebter Satz ist ja: „So wollte das der Komponist.“ Aber am Ende ist auch das nur unsere Meinung. Auf der Bühne darf man modifizieren, um alle Facetten herauszubringen. Mahler hat als Dirigent oft bei Wagner und Schumann Dynamik verändert, er hat Beethovens Neunte angepasst. In der Probe tun wir doch genau das: Hier steht piano, spiel das trotzdem lauter, sonst hört man die Phrase nicht, lass uns das Crescendo nicht dort machen, wo es geschrieben steht, sondern später, sonst hört man die Streicher nicht. Also im Grunde orchestrieren wir jeden Abend neu, in jeder Halle, mit jedem Orchester.

niusic: Wenn Sie den Musikern Ihre Klangvorstellung vermitteln, wie vermeiden Sie da Phrasen und abgegriffene Worte?
Järvi: Mein einziger Rat, oder eher meine Hoffnung ist beim Proben, dass jeder mit voller Persönlichkeit spielt. Deine 1. Oboe weiß, dass sie Solist ist und tritt dementsprechend auf. Aber im Tutti, in den zweiten Violinen, in den hinteren Reihen, ist es leichter, sich zurückzulehnen und weniger präsent zu sein. Nicht mit mir! Ich will, dass jeder extrem anwesend ist, alles von sich gibt und mir eine Idee präsentiert. Über die kann ich dann diskutieren. Schlecht ist nur, wenn jemand ohne Meinung spielt. Ich will eine starke Aussage in jeder Phrase und in jeder Stimme!

niusic: Sie haben auch mal gesagt, jedes Orchester, das Sie geleitet haben, klang danach hörbar besser ...
Järvi: Grinst und nickt.

niusic: Was soll denn beim Tonhalle Orchester besser werden?
Järvi: Sie spielen schon beeindruckend, keine Frage. Schwer, jetzt schon konkret zu werden: Jeder Dirigent braucht etwas anderes vom Orchester. Ich brauche Musiker, die ultraflexibel sind und noch im Moment etwas ändern. Das Tonhalle Orchester hat das schon ein bisschen, sogar mehr als einige deutsche Orchester, aber ... Nein, ich brauche noch Zeit.

Paavo Järvi in Zürich

niusic: Denken Sie nur in langfristigen Zielen? Mal ganz einfach: Wann ist ein Konzertabend für Sie erfolgreich?
Järvi: Da sind die technischen Kriterien, ob ein Orchester richtig und gut spielt. Aber es gibt feine Performances, denen fehlt Seele. Dann habe ich auch kein Erfolgsgefühl mehr. Ich glaube, ich kann das nicht messen mit externen Kriterien, weder an Publikumsreaktionen noch Kritiken. Zufrieden bin ich mit der Zeit auf jeden Fall immer seltener geworden. Das steht fest.

Ich bin ein Glückspilz. Viele Musiker wären gern halb so beschäftigt wie ich, und schon erfüllt.

Paavo Järvi

niusic: Aber trotzdem immer im Arbeitsrausch. Chef in Bremen, Zürich, Tokio.
Järvi: So ist es im Leben, entweder man hat zu wenig oder zu viel zu tun. Balance ist schwer. Nur nebenbei, ich sage 90 Prozent aller Angebote ab. Aber ganz ehrlich: Auf dem Papier ist das, was ich tue, viel. In der Realität startet man ja nicht bei jedem Orchester wieder mit: Hallo, ich bin Paavo.
Und was die Gastspiele angeht, die Berliner und New Yorker, das sind Beziehungen, die haben sich entwickelt und die gibt man nicht auf. Für eine wahre Partnerschaft ist man schließlich nie zu beschäftigt.

niusic: Haben Sie zu Karrierebeginn eigentlich alle Jobs angenommen?
Järvi: Ja, ich habe auch total blöde Musik dirigiert. Aber junge Dirigenten haben ja keine Audition oder sowas, da muss man alles annehmen, um sich einen Namen zu machen. Oft wurde ich dann wieder eingeladen, mit sinnvollerem Programm. Jetzt nehme ich solche Dinge nicht mehr an.

niusic: Was reizt Sie jetzt noch?
Järvi: Ich bin immer nur in den Hochstätten der Musikindustrie unterwegs. Aber da ist nichts in Indien oder Südostasien. Ich würde gerne mit einem Orchester in den Iran oder Irak gehen. Ich war noch nie in Afrika. Also wenn mich dort jemand einladen will: Ruft an. Ich reise mit dem Tonhalle Orchester an!

niusic: Sie sagen, Sie sind nie zufrieden. Das kann ich mir schlecht vorstellen ...
Järvi: Da haben wir uns falsch verstanden. Ich sehe meine Konzerte kritischer, weil ich mittlerweile immer weiß, wie es sein könnte. In der Hinsicht war ich, als ich unerfahrener war, noch öfter glücklich. Aber mein Leben ist super: Ich kann aufwachen, Musik machen, viele substanzielle Dinge tun. Für die Gesellschaft. Ich glaube nicht, dass ich es verdiene. Ich bin ein Glückspilz und einer aus einer Million. Viele Musiker wären gern halb so beschäftigt wie ich, und dadurch schon erfüllt.

niusic: Wie unfair!
Järvi: Ist es wirklich. Aber ich bin mir dessen bewusst und deshalb dankbar. Während des Studiums in Amerika wünschte ich mir immer ein lokales Orchester, mit dem ich einmal im Monat auftreten kann. Das war mein erstes Ziel. Und irgendwie wäre es auch in Ordnung, wenn es darauf hinausgelaufen wäre.

© Geatan Bally


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.