Es groovt im Graben. Badebibooobabedi. Stumm begleiten die Lippen von Titus Engel den rhythmischen Wahnsinn, der ihm von Hammondorgel, E-Gitarre und Schlagzeug entgegenschallt. Engel probt mit „Steamboat Switzerland“, einem Ensemble, das sich selbst „zwischen Hardcore und Avantgarde“ verortet und normalerweise auf Jazzfestivals auftritt, nicht im Opernhaus. Aber normal ist an dieser Produktion am Theater Basel ohnehin wenig. In zwei Tagen geht die Uraufführung von „Diodati. Unendlich“ über die Bühne, einer Oper von Michael Wertmüller und Dea Loher, in der allgegenwärtig Welten aufeinanderprallen: Jazzcombo auf Sinfonieorchester, Frankenstein-Mythos auf Hightechlabor, Videoinstallation auf Kostümtheater.
Wie kann es sein, dass Titus Engel trotz allem diese Coolness ausstrahlt? Als in der Bühnenorchesterprobe alles zusammentrifft, blüht er richtig auf. Jeder Schlag des Dirigats wirkt zu hundert Prozent präzise, keine rhythmische oder melodische Schichtung, und sei sie noch so komplex, scheint ihn aus der Ruhe zu bringen.
Titus Engel – Ein Überblick
Dieses Können als Talent abzutun, wäre jedoch falsch. Nicht, weil Titus Engel keines hätte, sondern weil ein Prozess damit übergangen würde, der diese Souveränität erst ermöglicht. Vor allem fürs Musiktheater, das nicht umsonst als die komplexeste aller Künste gilt, legt Titus Engel Wert auf frühzeitige Begegnungen mit Werk und Menschen. Komponist und Regieteam trifft er gerne schon zwei Jahre vor der Premiere, um Ideen auszutauschen und Visionen zu entwickeln. Und auch beim Orchester besteht er ein halbes Jahr vor der Uraufführung auf erste Sichtungsproben: „Es weiß ja niemand, was auf ihn zukommt. Da jeder nur seine eigene Stimme sieht, weiß er nicht: Was bedeutet das im Kontext?“ Titus Engel spricht über Musik, seine Hände visualisieren die Klänge in seinem Kopf. „Ist es ein total offenes Solo?“, Zeigefinger und Daumen unterstreichen Fokus und Präzision, „oder geht es um einen Klangrausch wie bei Opern von Richard Strauss?“, in schwungvollen Linien fliegen seine Finger durch die Luft.
Titus Engel
Ob Kernrepertoire oder Uraufführung: Die Basis seiner Arbeit bleibe die Partitur, sagt Engel. Im Unterschied zu manchen seiner Kollegen bedeutet eine solche Aussage aber nicht, dass Musik in der Oper für ihn über allem steht. Es gehe eher darum, im Notentext nach der Idee eines Gesamtkunstwerks zu forschen, das Handlung, Szene und Musik in sich vereint. „Ich finde es schon wichtig, dass man als Dirigent nicht erst zu den Endproben kommt. Dann ist man nämlich vor vollendete Tatsachen gestellt. Und dann gibt es diesen typischen Dirigent-Regie-Streit.“ Das ließe sich vermeiden, indem früher und häufiger miteinander kommuniziert würde. Außerdem treibt ihn die Neugierde zu den Proben: „Ich finde das Theater auch einfach zu interessant, als dass ich nicht da sein möchte.“
Im Gespräch mit Titus Engel taucht immer wieder der Name Gerard Mortier auf. Der Opernintendant und visionäre Kunstschöpfer (er gründete etwa die Ruhrtriennale) holte Titus Engel 2011 ans Teatro Real Madrid und beschleunigte damit den Durchbruch zur internationalen Karriere. Gerard Mortier verstand Theater als „Religion des rein Menschlichen“, eine Trennung von Kunst und gesellschaftlichem Diskurs war für ihn ausgeschlossen. Auch Titus Engel spricht gerne davon, durch Kunst Utopien zu schaffen, besonders im Musiktheater: „Dieses Zusammenbringen verschiedener Genres in der Oper ist auch ein Gesellschaftsmodell. Wir müssen zusammenarbeiten, kommunizieren und vor allem aufeinander hören. Das können wir in der Oper lernen.“
Mit diesem Denken ist Titus Engel nicht alleine. Viele Kunstschaffende glauben an die gesellschaftsbildende Kraft ästhetischer Prozesse, an eine Steigerung der Empathiefähigkeit durch sinnliche Kommunikation, die höhere Akzeptanz im Umgang mit Fremdem. Wenige folgen dieser Überzeugung aber so konsequent wie Titus Engel. Er ist sich sicher: Wer von seinem Publikum Neugierde und Offenheit erwartet, im Leben wie in der Kunst, der sollte auch bereit sein, selbst Fremdheitserfahrungen zu machen und eigene Komfortzonen zu verlassen. Engel tritt daher regelmäßig an ungewöhnlichen Orten auf. Bei der Ruhtriennale 2018 dirigiert er in der Bochumer Jahrhunderthalle „Universe Incomplete“ von Charles Ives. Er läuft mit den Bochumer Symphonikern hunderte Meter musizierend durch die Halle, an einem schwebenden Dinosaurier und tanzenden Artisten vorbei. Im ehemaligen Paketpostamt in Stuttgart fährt er zu Beginn der Inszenierung von Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ durch Hans Op de Beeck auf dem Fahrrad herein. Das Publikum vor ihm musste in Gummistiefeln durch knöcheltiefes Wasser waten, um zu den Sitzplätzen zu gelangen. Die klamme Atmosphäre der Oper wurde auch physisch spürbar.
Den Effekt solch experimenteller Theaterabende spürt Titus Engel auch bei der Arbeit im regulären Opernbetrieb. „Es nimmt Ängste. Große Entfernungen sind auf einmal klein. In der Jahrhunderthalle waren es dreihundert Meter, jetzt sind es dreißig.“ Ohnehin sei das Wichtigste bei der Theaterarbeit, Dinge auszutesten. Singt der Chor mit dem Rücken zum Publikum, klingt es natürlich auch anders. Im besten Fall vereinen sich optische und akustische Reize zu einem stimmigen Ganzen. Gerade die Freude am Experiment sei es gewesen, die ihn während der Arbeit mit Christoph Marthaler bei der Ruhrtriennale begeistert habe. „Ein bisschen Naivität oder kindliche Ausprobierfreude, das ist es, was das Theater schaffen kann!“ Vielleicht ist es gerade diese Mischung aus künstlerischer Abenteuerlust und detaillierter Vorbereitung, die dafür sorgt, dass es bei Titus Engel so schön groovt.
Video-Porträt: ©Thilo Braun
Fotos Herzog Blaubarts Burg: © Staatsoper Stuttgart/Matthias Baus