Von Silja Vinzens, 28.03.2019

Notencocktail für die Seele

Melodien und Rhythmen, die sich in Dauerschleife wiederholen, mögen auf den ersten Blick langweilig klingen, haben aber eine verblüffende Wirkung. Musik kann ihr Publikum in Trance versetzen. Davon machte nicht nur Maurice Ravel bei seinem „Boléro“ Gebrauch, das nutzen auch die verschiedensten Kulturen seit Jahrhunderten.

„Hilfe, ein Verrückter!“

Ein Dreivierteltakt, ein sich wiederholender Rhythmus, zwei ständig aufeinanderfolgende Melodien: Als der Komponist Maurice Ravel sich zwischen Juli und Oktober 1928 an sein bis heute sehr populäres Werk „Boléro“ setzt, verzichtet er vollends auf komplizierte Kapriolen sowie Tonart- und Taktwechsel. Dass jedoch genau dieses Weniger mehr ist, zeigt sein Stück bereits bei der Uraufführung. „Hilfe, ein Verrückter!“, empört sich eine Frau aus dem Publikum. „Die hat es kapiert“, lautet die lässige Antwort Ravels. Doch was ist dort in Paris bei der Premiere am 22. November 1928 eigentlich passiert?

Eine kleine Trommel, die später um eine weitere ergänzt wird, schlägt laufend den gleichen Rhythmus, darüber entspinnen sich zwei Melodien ausgehend vom Grundton C, die immer und immer wieder in verschiedenen Registern wiederholt werden. Diese Kombination versetzt die Zuhörer, die zu dieser Zeit ganz anderes gewohnt sind, erst in Staunen, dann in eine fast beängstigende Trance. Denn auf der Bühne geschieht – bis darauf, dass die Musik langsam, aber stetig immer lauter wird und sich die Auftraggeberin des Werkes, die Tänzerin Ida Rubinstein, lasziv dazu bewegt – rein gar nichts. „Ich habe nur ein Meisterwerk gemacht, das ist der Boléro; leider enthält er keine Musik“, soll Ravel später darüber gesagt haben. Dass Musik aber durchaus so gleichförmig sein darf, beweist nicht nur die bleibende Beliebtheit des „Boléros“, sondern auch eine Vielzahl weiterer Stücke davor und danach, die genau auf dem Prinzip des Trance-Zustandes aufbauen.

Die Ordnung des Gehirns wird deaktiviert

Dieses Phänomen, zur Musik in Trance zu fallen, sei sowohl in Jugendkulturen wie auch in großen Chören zu beobachten, erklärt Prof. Dr. Eckart Altenmüller, einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Neuropsychologie von Musikern, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. „Interessant ist da hirnphysiologisch, dass genau der Teil des Gehirns, der unseren Alltag so diktatorisch bestimmt, uns geordnet, konzentriert, sich anständig benehmend programmiert, dass dieser Teil dabei deaktiviert wird“, schildert er.

Von Mantren im Hinduismus, Buddhismus und Schamanismus bis zur elektronischen Musik, Techno und Goa-Hippie-Trance-Musik: Immer wiederkehrende Töne und Rhythmen dienen seit jeher verschiedenen Richtungen dazu, eine Art Entrückung vom Selbst zu erreichen. Auch im Alltag kann einem dieser Zustand begegnen: Und sei dies nur am Ende einer Yogastunde, in der meine Lehrerin zur Schlussentspannung jede Woche erneut einen dreiminütigen Gesang vom Band abspielt. Mit der Stille im Raum mischt sich eine ganz leise, sanft summende Frauenstimme. Ihre Sprache ist nicht zu verstehen, denn es sind eher Laute, gesungene Vokale, „Os“ und „As“, die ineinander übergehen, begleitet von einer kleinen Trommel und unterlegt mit der schimmrigen Harmonie eines Synthesizers. Auch hier braucht es nur diese wenigen Zutaten, um bei mir ein völliges „Sich-fallen-lassen“ auszulösen, den Puls zu verlangsamen, den Atem tief und ruhig werden zu lassen, sodass einem danach bei zu schnellem Aufstehen fast schwindelig werden kann.

Als Kind der Neunziger verbinde ich Trance und Musik sonst eher mit den leicht matten Bildern aus alten Filmen über die Siebziger und Achtziger, in denen sich bunt gekleidete, langhaarige Menschen mit Haarband schlangenartig zu in Dauerschleife laufender, elektronischer Musik bewegen. Dass es in dieser Zeit nicht nur in Mode war, sich mit Musik aus dem Hier und Jetzt zu stehlen, sondern sich die westliche Kultur auch mit den Bräuchen der Buddhisten mischte, zeigt die Initiierung des „Metamusik“-Festivals durch den Komponisten und Funkredakteur Walter Bachauer. Der „SPIEGEL“ berichtet in seiner Ausgabe vom 12. Mai 1975 darüber, dass Bachauer für 35 Veranstaltungen tibetanische Mönche nach Berlin geholt haben soll, die mit „außergewöhnlich tiefen Stimmen monotone Gebete auf einem Grundton sangen“. Dazu seien indische Sitar-Virtuosen, japanische Koto-Spieler, englische Rock-Artisten und amerikanische E-Experimentatoren wie Steve Reich angereist. Über den sich wiederholenden Notencocktail hinaus, sollen die fortgeschrittenen Trance-Musiker dieser Zeit übrigens keine weiteren Drogen mehr gebraucht haben. „So hilfreich indes Hanfdampf und psychedelische Drogen noch gestern für den Einstieg in die elektronischen Mysterien etwa von Pink Floyd empfunden wurden, so überflüssig erscheinen fortgeschrittenen Trance-Musikern heute LSD, Marihuana und Meskalin“, heißt es vom SPIEGEL dazu.

„Wir hören weit vor der Entwicklung unseres Denkens und nehmen die Welt über Empfindungen und Geräusche wahr, lange vor der Geburt."

Dr. Johannes Oehlmann

Musik als Droge, Musik als Mittel, sich in eine andere Welt zu träumen oder gar als Schmerzstiller? Weder der Wiederholung der Noten noch der Wirkung scheinen Grenzen gesetzt, wenn es um Musik und Trance geht. Der Musiktherapeut Dr. Johannes Oehlmann erklärt in einem Bericht über Hypnosepraxis dazu: „Wir hören weit vor der Entwicklung unseres Denkens und nehmen die Welt über Empfindungen und Geräusche wahr, lange vor der Geburt. Daher spricht Musik so frühe, nicht ohne weiteres bewusst zu fassende Empfindungen an.“ Doch Oehlmann warnt auch, dass es Gefahren gibt, die bei der Anwendung zu beachten sind: „Bei dem Umgang mit Musik und Trance ist auch Vorsicht angebracht. Ängste können unter Umständen bei manchen Menschen mit Musik leichter ins Bewusstsein kommen“, schreibt er.

Die zwei Gesichter der Trance

Die Angst oder den Schock, wie bei der Besucherin der „Boléro“-Premiere, erleben Menschen heutzutage vermutlich eher selten, aber das Gefühl, sich gegen das Einlullen einer sich wiederholenden Musik sträuben zu wollen, kennt doch jeder, der ihr einmal unfreiwillig ausgesetzt war. Im besten Fall erfahren wir die Mini-Trance, diese Art Sog, den jeder von uns schon mal erlebt haben dürfte, wenn er ein besonders bekanntes und geliebtes Stück gehört hat, mit der Musik, die uns gefällt. Ob das der „Boléro“ im Konzertsaal, das Drum’n’Bass-Stück auf der Disko-Tanzfläche oder eben das Entspannungs-Lied am Ende einer Yoga-Stunde ist.

© pixabay


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