Noch im Juli hatte der 88-jährige Jean Guillou mir die Tür zu seinem Pariser Appartement geöffnet. Auf dem Tisch stand Weihnachtsschokolade, in den Regalen lag alles mögliche Zeug, von Noten bis hin zu Kleinkram und Kuscheltieren, und auf einem Sims an der Wand überragte eine überlebensgroße schwarze Büste alle Stehrümchen drumherum – eine Büste von ihm. Vielleicht 40 Jahre alt mag er darauf sein. Sie zeigte ihn mit seiner typischen mephistophelisch zurückgekämmten Mähne, dem schmalen Gesicht, der hohen Stirn. Ikonisch, wie er auch Jahre später noch wirkte, allein indem er direkt neben ihr saß.
Die Zeit in diesem geräumigen, ja riesigen Appartement mit den schweren Vorhängen und dunklen Teppichen schien irgendwie stehen geblieben zu sein. Jean Guillou, der umstrittene und gefeierte Titularorganist der Pariser Kirche Saint-Eustache, freute sich ehrlich über den Besuch. Er kramte alte Aufnahmen heraus, Bücher, einen Gedichtband, den er 2014 veröffentlicht hatte. Und er erzählte, mit etwas unruhigem Atem, von seinem Leben, seiner Kunst. Der Orgel.
Am 26. Januar 2019 ist er verstorben. Noch im Oktober spielte er das Abschlusskonzert des Münchner Orgelherbstes, und erst im April zuvor hatte er sich selbst ein Geburtstagskonzert in der Elbphilharmonie geschenkt – jenes Konzert, nach dessen Besuch ich unbedingt den Kontakt zu ihm aufnehmen wollte. Dort hatte er unter anderem seine Komposition „Révolte des orgues“ für neun Orgeln und Schlagwerk aufgeführt, neben seiner wahnwitzig virtuosen Bearbeitung von Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ und einer beinahe schon ketzerisch donnernden Bach-Zugabe. Dessen Werk spielte für Guillous Schaffen eine besondere Rolle, allein seine Einspielung des Gesamt-Œuvres in Saint-Eustache ist nach wie vor legendär. Aber trotzdem war Guillou nicht nur der, der das Rubato auf allen Ebenen in die barocke Kontrapunktik 62 einzuweben wusste. Er hat Orgeln gebaut, fünf an der Zahl. Er komponierte selbst, 87 Opus. Und er improvisierte wie kein anderer:
Hoch lebe Bach, die musikalische Gleichberechtigung und der tönende Diskurs! Es geht darum, dass alle Stimmen gleichberechtigt fortlaufen können, keiner hat das Sagen. In der Polyphonie ist das spannend, sonst haben wir nur Eintöniges: Melodie und Begleitung. Es lebe der Kampf der Eigenständigkeit. (CW) ↩
Vielleicht wurde er der revolutionäre Musiker gerade dadurch, dass er bis zu seinem Studium keinen klassischen Instrumentalunterricht bekam. Als Junge ließ er sich vom Dorfschmied seines Heimatortes Angers die örtliche Kirche aufschließen und spielte ihm vor – einfach so. Später erst studierte er bei Marcel Dupré, Olivier Messiaen und Maurice Duruflé, und, bei Gott, er stritt mit ihnen. „Messiaens Klangsprache“, sagte er beispielsweise im Juli, „ist mir immer zu französisch gewesen.“ Was er meinte: zu strukturiert und zu stark von Komponisten wie (vor allem) Claude Debussy beeinflusst. Er selbst dagegen hatte immer versucht, die Imitation zu vermeiden, hielt auch nichts von historischer Aufführungspraxis: „Ich verstehe nicht, wie man in der Musik solche starren Regel und Vorschriften machen kann“, sagte er. „Bestimmte Dinge zu verbieten und andere ganz akkurat vorzuschreiben, das nimmt der Musik ihre Lebendigkeit.“ Ihm war das Wichtigste dagegen immer: den Komponisten „zu spüren“.
Während des Gesprächs im Pariser Wohnzimmer schwang mit: Guillou war zwar alt. Aber er war noch lange nicht fertig. Er war vielleicht nicht mehr der ungestüme Reformer von früher, doch war ihm wohl bewusst, dass er für eine ganze Reihe jüngerer Organist:innen, Orgelbauer:innen und Komponist:innen eine Leitfigur darstellte. In seinem schmalen, in schwarzes Leder eingebundenen Kalender standen auch im Jahr seines 88. Geburtstags noch haufenweise Auftrittsttermine. Solange er konnte, reiste er um die Welt und gab Konzerte. Denn er hatte ein Anliegen: Er wollte die Orgel „aus der Kirche befreien“ – mit weltlichem Repertoire und an neuen Orten, in ungewohnten Räumen. Auf die Frage, wo er am liebsten einmal spielen würde, antwortete Guillou im Juli ohne lange nachzudenken, bescheiden und ganz bewusst: „In einem Wald.“
© Foto des Covers von Jörg Abbings Guillou-Biografie: Hannah Schimdt