Von Malte Hemmerich, 29.01.2019

Dezibelmonster

Ohrenbetäubend – das sind coole Rock- und Popkonzerte, Düsenjets oder Gewitter. Aber klassische Musik? Doch es gibt tatsächlich auch hier Werke an der Grenze zur Körperverletzung. Warum aber schreiben Menschen Musik, die so weh tut, dass ein Orchester bei der Einspielung Ohrenschützer tragen will?

Ich war ungefähr neunzehn Jahre alt, als mir ein Konzert zum ersten Mal körperliche Schmerzen zufügte. Natürlich, mit unseren guten Stereoanlagen und insbesondere den In-Ear-Kopfhörern direkt im Gehörgang sind wir heute in der Lage, so ziemlich jedes Musikstück in einer gesundheitsgefährdenden Lautstärke abzuspielen. So können auch bei einer sanften Chopin-Nocturne die Ohren bluten.

Doch an besagtem Abend konnte ich nicht einfach den Maximallautstärkeschutz an meinem Handy aktivieren oder die Musikanlage ausstellen. Ich und tausend andere Konzertbesucher im Konzerthaus Dortmund waren rettungslos einem Dezibelmonster ausgeliefert. Das Schlussstück des Abends war „Amériques“ von Edgar Varèse. Welches Orchester spielte, weiß ich nicht mehr. Aber in den dumpf dröhnenden letzten Sekunden, die die Lautstärke eines startenden Düsenjets zu erreichen schienen, wären spieltechnische Finessen sowieso nicht zu hören. Ab einem gewissen Dezibellevel klingen eben alle Orchester gleich, Instrumente lassen sich nicht mehr unterscheiden, das Ohr hört nur noch dumpfes Pochen, Rauschen, Kreischen.



Was, fragte ich mich damals, in einer Reihe mit Konzertbesuchern mit Fingern in den Ohren sitzend, bringt es so zu komponieren, außer körperlich zu schocken? Nun erreicht Varèse den Effekt nur für einige Endsekunden in seinem Stück, als Höhepunkt einer stetigen Steigerung, manche Lärmkünstler aber toben sich ununterbrochen am oberen Level der Skala aus.

2008 ließ das BR-Symphonieorchester zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Uraufführung platzen. Das Stück „Halat Hisar“ von Dror Feiler beginnt mit Salven aus Maschinengewehren und ist somit schon eher als Lärmkunst zu bezeichnen. Der Komponist wollte damit das drastische Bild einer Belagerung malen und sagte unter anderem streitbare Sätze wie:

„Wenn die Lautstärke der Musik am Denken hindert, wird wieder mehr zugehört.“

Dror Feiler

Der Manager des BR-Orchesters strich das Stück nach der ersten Probe vom Plan. Viele Musiker hatten mit Ohrstöpseln geprobt, einer der Mutigeren klagte dagegen danach über einen mehrstündigen Tinnitus.

Fraglich, ob es notwendig ist, körperlich in den Lautstärkezustand einer Belagerung geworfen zu werden, falls das überhaupt möglich ist. Aufmerksamkeit fesseln durch Überwältigung? Solche Effekte erinnern mehr an einen Kinofilm. Die Stärke der Musik ist eine andere, subtilere und inhaltlichere. Man denke nur an Schostakowitsch, der Leningrad musikalisch zeichnet, auf intelligente Art und ohne Schmerzgrenzen zu sprengen. Unsere Fantasie ist dann umso grausamer angeregt.

Scheinbar friedlich: Hekla auf Island

Wer aber glaubt, die Lautstärkehöhepunkte der klassischen Konzertwerke erschöpfen sich mit Varèse, Experimenten bei Xenakis und Co. und Kanonen in Tschaikowskis „1812“-Ouvertüre, der kennt „Hekla“ nicht, die musikalische Vulkanausbruch-Vertonung des isländischen Komponisten Jón Leifs. Der Musiker erlebte selbst den einen Ausbruch des Hekla auf Island in den 40ern, eine der stärksten Vulkanerruptionen aller Zeiten, und schrieb die Tondichtung 1964. Hier sind die Kanonenschüsse nur Dekoration zu Anfang. 22 Schlagwerker verlangt die Partitur, welche sich dann an Schiffsketten, Blechen, diversen Trommeln, Sirenen und „musikalischen Steinen“ austoben dürfen. Letztere mussten übrigens für die Uraufführung in Helsinki aus Island importiert werden, da Leifs die finnischen Steine nicht fähig genug waren. Ob es sich gelohnt hat? Wohl eher nicht. Die Aufführung war ein Skandal, Kritiker entrüstet und das Publikum ertaubt. Schon bei den Proben sollen die Musiker Ohrenschützer verlangt haben.
Auf einer Aufnahme fehlt natürlich die wirklich körperliche Erfahrung, das Rütteln im Bauchraum. Doch kommt man hier trotzdem auf böse Gedanken: Was, wenn laute, übertriebene Dauereffekte nur das Fehlen von musikalisch fesselnden Ideen aufzeigen?



Wenn am Ende von „Hekla“ ein großer Chor einsetzt (was merklich spätere Fantasy-Blockbustermusik beeinflusst hat), aber nach dem minütigen Dauergedröhne nur noch wenig Wirkung erzielt, wird klar, wie wichtig doch eine bestimmte Eigenschaft beim Komponieren ist: Maß. Und Musik lebt eben meist von Kontrasten. Klar ist ein lautes Orchesterstück cool und aufrüttelnd. Wer aber ausprobieren will, wie schnell sich das erschöpft, dem sei die CD „Earquake“, eine Sammlung der angeblich lautesten Klassikstücke, empfohlen.

© Public Domain


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