Von Carsten Hinrichs, 13.12.2018

Na, so eine Überraschung!

Tradition mit Knalleffekt: Wir haben uns durch die neuen Alben zum Fest gehört und die fünf besten für Euch ausgewählt.

Last Christmas – ist es ein Wunder, dass uns einer der erfolgreichsten Weihnachts-Popsongs schon im Titel ans letzte Jahr erinnert? Weihnachten ist nun mal, wie jede Tradition, die Wiederkehr des ewig Gleichen. Aber Variationen sind erlaubt und erwünscht! Wir haben also die aktuellen Weihnachtsalben durchstöbert und Euch unsere TOP 5 und FLOP 5 rausgesucht, Überschneidungen nicht ausgeschlossen. Diese Woche starten wir mit den Highlights: Von Lamettaknistern bis Dekonstruktion ist alles dabei.

Der Chor des Bayerischen Rundfunks, der in unserem Reigen den Anfang macht, ist in Sachen Weihnachtsüberraschung kein neuer Gast. Bereits zum dritten Mal beglückt uns Chef Howard Arman mit seinen Arrangements – und das auf gleichbleibend hohem Niveau, Respekt! Nun also „More Christmas Surprises“ , die darin bestehen, dass der aufmerksame Hörer in diesem knallbunten und bei aller technischen Finesse auch mit unvergleichlich viel Spaß aufgenommenen Weihnachtsschwank allerlei Stil- und Musikzitate entdecken kann. Wie schafft es Wagners „Tristan“ in die „Twelve Days Of Christmas“?! Hört selbst.



So viel kunstvolle Persiflage ist vielleicht nicht jedermanns Geschmack. Für Puristen haben sich die phänomenalen ORA Singers, deren Chorleiterin Suzi Digby bereits die Rolling Stones auf Tour begleitete, dem Fest im Zeitsprung angenähert. Wie bei all seinen Projekten überblendet das a-capella-Ensemble auch in „The Mystery Of Christmas“ Chorsätze der Renaissance mit Neuer Musik. Macht die Ohren hoch und weit, und manchmal weiß man gar nicht, in welchem Jahrhundert man gerade unterwegs ist. Macht gar nichts, denn die gute Stunde zwischen Byrds „O Magnum Mysterium“ von 1607 und Morten Lauridsens gleichnamiger Motette von 1994 lässt einen aufmerksam zurück, mit dem Gefühl einer sternenklar gezeichneten Verheißung.



In diesem Punkt haben es die gerade sehr gebeutelten Briten besser als wir, denn sie können die Weihnachtstradition umstandslos und reibungsfrei in ihrer sehr lebendigen Chor-Tradition ausleben. Der haftet nichts Kitschiges oder Falsches an. Nicht umsonst ist die weltweite Übertragung der „Nine Lessons and Carols“ aus dem King’s College Cambridge durch die BBC alle Jahre der Weihnachtsrenner im ehemaligen Empire. 2018 jährt sich diese Institution zum hundertsten Mal und erinnert uns daran, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg aus der Sehnsucht nach Hoffnung geboren wurde. Wer sich neben „Stille Nacht“ und „O Tannenbaum“ dringend Repertoireerweiterung wünscht, wird in den schlichten, eingängigen Carols mehr als einmal fündig.



Weihnachten ist emotional ein Ritt auf der Rasierklinge, und der Grat zwischen Gefühl und Gefühligkeit messerscharf.

Hierzulande lässt sich hingegen die virulente Sehnsucht oft schwer erfüllen, die Erinnerungen aus der Kindheit sind scheu geworden, sie lassen sich für viele nur noch mit Hilfsmitteln herbeilocken. Ja, Weihnachten ist emotional ein Ritt auf der Rasierklinge, und der Grat zwischen Gefühl und Gefühligkeit dabei messerscharf. Auch die Musik besitzt den Generalschlüssel zu unserem Befinden, aber deshalb fühlt sich vieles, was mit Weihnachten spielt, auch so manipulativ und falsch an. Doch dazu nächste Woche mehr.

Man kann ja den Hörer als mündig erachten und den Bruch auch einfach stehen lassen. Daniel Behle hat ein Weihnachtsalbum veröffentlicht, das altdeutsche Stube, Berliner Varieté, Brahms-Klaviertrio und Schönberg-Kammerarrangement verrührt zu etwas sehr heutigem. Dass er dabei nicht nur als Sänger, sondern auch Arrangeur und Komponist in Erscheinung tritt, setzt „Meine schönsten Weihnachtslieder“ von allen ähnlich lautenden Sänger-Beiträgen ab. Behle balanciert genau auf dem Spalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit, der einem Weihnachten oft so nahe – und zugleich so verflucht auf die Nerven gehen lässt. Ob Flöckchen oder Glöckchen, hier lohnt sich, dranzubleiben. Denn was im vertraut-biederen Gesang zunächst belustigt, erfährt eine schleichende Verunsicherung in den Harmonien, bevor es uns mit Knalleffekt um die Ohren fliegt. Nicht umsonst steht vor dem zweiten Teil ein „Gewitter-Präludium“. Hier blitzt es im Likörgläschen, und der Weihnachtsbaum schüttelt sich klirrend. Behle erinnert daran, dass die herbeigerufenen Kinderlein ganz schön bitter enden und uns zu „Kling Glöckchen“ heute nur noch das Handy einfällt. Dieses Album wird sicher nicht jedem schmecken, aber es ist unbestritten der mutigste Beitrag dieses Jahres.



Ein Blick durchs Fenster nur, wir bleiben der Wanderer vor der Tür.

Natürlich zitiert Behles Album zumindest in den ungebrochenen Anfängen der Lieder die Ära der Sänger-Weihnachtsalben, als die Größen von Opern- und Konzertbühne dem bürgerlichen Wunsch nach Glanz für die familiäre Weihnacht noch ohne Naserümpfen nachkommen konnten. Diese Ungebrochenheit lässt sich nicht wiederholen, weshalb heutige Beiträge im alten Stil vor Starweihrauch und Fremdscham müffeln.
Mit welch aufrichtiger Selbstsicherheit (und nicht zu vernachlässigen: musikalischem Kräfteaufwand!) man solch ein Album seinerzeit abliefern konnte und durfte, lässt sich an einer Wiederbegegnung ermessen. „Peter Schreier singt Weihnachtslieder“, begleitet von den Thomanern und der Staatskapelle Dresden, und das so tief empfunden und kerzengerade, dass einem unwillkürlich warm ums Herz wird. Hier ist er, der Blick in längst verlorene, von rationalem Gekrittel unbelastete Weihnachtsfreude früherer Jahre. Aber ein Blick durchs Fenster nur, wir bleiben der Wanderer vor der Tür.



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