Von Simeon Holub, 19.07.2018

Eine kleine Nachtmusik

Die meisten Menschen schlafen nachts. Dabei verpassen sie das Beste, findet Simeon Holub. Seine Playlist ist auf der Suche nach Klängen der Stille: für alle Nachtschwärmer und Mondsüchtigen.

Was war zuerst da: das Schlaflied oder der Schlaf? Bei den meisten Kindern gilt zumindest: erst Singsang, dann Schlummer. Die tief verwurzelte Verbindung zwischen Nacht und Musik bleibt oft ein Leben lang bestehen. Wir gehen spät ins Konzert, tanzen im künstlichen Licht und schlafen nach (manchmal auch während) der (Götter-)Dämmerung ein. Doch was bewegt uns eigentlich dazu, nachts Musik zu hören? Max Reger liefert mit seinem Nachtlied eine mögliche Antwort: „Lass uns einschlafen / Mit guten Gedanken.“



In der Nacht lauert Gefahr, wir sind angreifbar und verletzlich. Eine kleine Dosis musica sedativa schafft Abhilfe und treibt „von uns fern die unreinen Geister.“ Nun ist Reger schon seit über 100 Jahren tot und die Nacht ist es – zugunsten von Stadtlicht und Nachtschicht – auch. Eine Tageszeit, die sich vor allem in der Abwesenheit von äußeren Reizen bemerkbar macht, fehlt. Kann die Musik diese Sehnsucht stillen? Paradox scheint der Versuch zunächst, ausgerechnet den Zustand der Stille hörbar zu machen.

So nähert sich Bartók den Klängen der Nacht mit durchgehenden Pianissimo-Tupfern, die wie ein gleichmäßiges Grillenzirpen den Hintergrund einer schaurigen Kulisse formen. Ganz anders bei Chopin. In seiner Nocturne Op. 9, No. 2 kann man sich an den pedalgeschwängerten Flügelklang schmiegen und vom wohligen Es-Dur wärmen lassen. Im Schatten des Nocturne-Komponisten par excellence tritt Edvard Grieg mit einem dunkleren Ton hervor. Die absteigenden Bässe tappen tiefer in ungewisse Gefilde, allein die ekstatischen Quartenketten schnellen im Notturno 223 für kurze Zeit Richtung Himmel.

  1. Der Soundtrack für romantische Nächte. Liszt, Chopin, Rachmaninow, Skrjabin und viele andere haben sich an dieser Werkform versucht und es dabei zum Teil auch etwas krachen lassen. Die Nocturne, auch „Notturno“ oder „Nachtstück“, ist in der Regel als eigenständiges Stück konzipiert. (KB)

„Holder, lichter Lenz, du, der im Sternenscheine still deine Wege gehst.“

aus Vårnatt von Wilhelm Stenhammar

Wie im Himmel fühlt sich dann die Vårnatt (Lenznacht) in Schweden an. Wilhelm Stenhammar moduliert schwelgerisch durch die erste Frühlingsbrise – übrig bleibt das lang ersehnte Ende einer einzig langen Dunkelheit dort oben in Skandinavien. Da gibt es sie noch, die Nacht. Die Nordlichter haben eben einen ganz anderen Bezug dazu. Ich verstehe ihre Sprache nicht, aber ich lausche gebannt der Geschichte, die der isländische Singer-Songwriter Ásgeir über Dýrð í dauðaþögn, die Herrlichkeit der Totenstille zu erzählen hat. Auch seine Landesgenossen Ólafur Arnalds und Nanna Bryndís Hilmarsdóttir (Frontfrau von „Of Monsters and Men“) erzeugen in Particles mit einfachen Pianorepetitionen und einer herrlichen Schlafzimmerstimme einen tranceartigen Zustand, aus dem man gar nicht mehr raus möchte.

Aufwachen. Hol’ uns aus der Verklärten Nacht, lieber Arnold Schönberg. Zeig uns lunare Tragik, die dunkle Seite des Mondes. Keine Angst, in der Nachtmusik präsentiert sich selbst Schönberg von seiner romantischsten Seite und verzichtet auf Zwölftongejammer. Lange Bögen, viel Dynamik, ein großes Aufseufzen … Vor dem Schlafengehen vielleicht trotzdem ein bisschen zu viel des Guten. Zur Beruhigung dann doch lieber ein rauschender Bach: Gute Nacht, o Wesen.

© HeonCheol LEE/Pixabay


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