Von Werner Kopfmüller, 01.11.2018

Die Heimat in der Ferne

Wenn ein ganzes Sinfonieorchester verreist: Werner Kopfmüller begleitete das Leipziger Gewandhausorchester auf seiner Tournee nach Lettland, der Heimat des Chefdirigenten Andris Nelsons.

Eine Szene mit Seltenheitswert: Der sonst eher verschlafene Flughafen Riga ist eigentlich kein Ort berichtenswerter Vorkommnisse, doch an diesem Samstagmorgen Mitte Oktober liegen die Dinge anders. Nicht nur, weil ein reisendes Sinfonieorchester die Gepäckausgabe an die Belastungsgrenze treibt. In der Empfangshalle drängelt sich ein Trupp Journalisten. Mikrofone sind für den Stimmenfang gezückt, ein Kamerateam bringt sich in Stellung. Der Medienrummel gilt einem Mann ganz allein: Andris Nelsons, der 21. Gewandhauskapellmeister, der mit dem Leipziger Orchester für zwei Konzerte in seine Heimatstadt kommt. Die Stadt, die er einst als großes Talent verließ, um nun als Weltstar zurückzukehren. Pathetisch gesprochen.

Anlass der Reise: Lettlands Unabhängigkeit vor einhundert Jahren

Weniger pathetisch gesprochen, ist Riga nur eine von vielen Stationen der diesjährigen Herbsttournee, die das Gewandhausorchester über London und Schweden erstmals nach Lettland führt. Passenderweise feiert das kleine Land im Baltikum im November den 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Da lohnt es sich für ein Spitzenorchester, mit seinem lettischem Chefdirigenten vorbeizuschauen.
Anders, als zu vermuten wäre, hat sich die Stadt für die Jubiläumsfeierlichkeiten nicht sonderlich herausgeputzt. Unser Hotel liegt etwas außerhalb der Altstadt. Zur Lettischen Nationaloper, wo das Gewandhausorchester an zwei Abenden spielt, sind es ein paar hundert Meter durch den weitläufigen Stadtpark.

Der Glanz Rigas, einst strahlende Kapitale des Baltikums, ist während Sowjet-Zeiten fast vollständig verblasst. Was davon übrig blieb, wurde in den letzten Jahren mit viel EU-Geld wieder aufgehübscht. Die Jugendstilfassaden an der Prachtstraße Alberta iela erzählen von den Goldenen Jahren um 1900, etliche Luxusboutiquen sprechen für einen blühenden Tourismus. Vor allem reiche Russen machen hier Urlaub. Die sind nach Jahren der Okkupation nicht besonders beliebt bei den Letten, bringen aber immerhin viel Geld mit.

Und das kann man in Riga gut gebrauchen, zum Beispiel für den bitter benötigten Konzertsaal. Seit Jahren redet man sich die Köpfe heiß, wo und wie der gebaut werden soll. Bis es so weit ist, muss die akustisch unbefriedigende Nationaloper als Ausweichquartier herhalten. Was sich insofern wieder gut ins Tourneekonzept des Gewandhausorchesters fügt, als Andris Nelsons hier seine Karriere startete. Mit gerade einmal 24 stieg er zum Chefdirigenten auf. Einem Jungspund die musikalischen Geschicke des Traditionshauses anzuvertrauen, war damals nicht unumstritten.

An der lettischen Nationaloper machte auch Kristine Opolais ihre ersten Karriereschritte. Die Starsopranistin ist an diesem Abend Nelsons Bühnenpartnerin. Bis vor Kurzem war sie es auch im richtigen Leben. Weil die Nachricht von der einvernehmlichen Scheidung der Eheleute erst bekannt wurde, nachdem die Tinte unter den Verträgen längst getrocknet war, bleibt es beim gemeinsamen Auftritt vor heimischer Kulisse. Beide sind eben Profis. Musikalisch erfüllend ist die Performance allerdings nicht. Zumal Opolais in den Tschaikowski-Arien nicht nur stimmlich übers Ziel hinausschießt, sondern es auch mit dem Schauspielern übertreibt. Wie sie hochexpressiv die Hände reckt, während Nelsons nüchtern den Takt schlägt, sorgt für unfreiwillig komische Momente.

Davon abgesehen, wirkt Nelsons beim Heimspiel angespannter als sonst. Das Uraufführungswerk seines Landsmanns Andris Dzenitis, extra für die Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit Lettlands komponiert, wird vom heimischen Publikum eher verhalten aufgenommen. Nach der Pause steht Mahlers erste Sinfonie auf dem Programm. Nelsons hat seine liebe Mühe, den Koloss auf Tempo zu bringen. Erst im „stürmisch bewegten“ Finale springt der Funke über. Dann aber nachhaltig. Und der Heimbonus kommt noch hinzu: Nelsons wird gefeiert wie ein Held, ist aber bescheiden genug, den Dank wie auch den riesigen Blumenstrauß, der sein Gesicht verdeckt, an seine Musiker weiterzureichen.

Nach dem zweiten Konzert in Riga schmeißt er im Opernfoyer eine Party für alle Orchestermitglieder, als kleine Entschädigung für die vielen Tournee-Strapazen. Die Stimmung ist deutlich gelöster als am Vorabend beim offiziellen Empfang mit Politprominenz und Sponsoren. Nelsons hat ein Büffet mit lettischen Landesspezialitäten kommen lassen, dazu gibt es Bier und Wein. Durchgefeiert wird trotzdem nicht. Um Punkt 23 Uhr will das Dienstpersonal Feierabend machen. Den meisten Musikern ist das nach dem intensiven Konzertabend Recht, sie sind ohnehin geschlaucht vom straffen Tournee-Zeitplan.

Business as usual. Aber auf der Bühne müssen die Emotionen stimmen.

Den Rhythmus aus Reisen, Ankunft im Hotel, Warmspielen im Zimmer, Anspielprobe und Auftritt haben die Musiker schnell als Automatismus verinnerlicht. Business as usual. Nur auf der Bühne, da müssen die Emotionen stimmen. Freie Tage, an denen abends kein Konzert ansteht und die Musiker den Tournee-Alltag einmal hinter sich lassen können, sind selten. Die einen nutzen diese Zeit für einen Ausflug an die Ostsee. Die anderen schlendern durch die Altstadt. Museen haben montags geschlossen. Und um 18:00 Uhr müssen die Instrumente unten am Hotel abgegeben sein, damit die Weiterreise am nächsten Tag reibungslos klappt.

Von Gewandhausdirektor Andreas Schulz will ich wissen, worin er den Mehrwert solcher Tourneen sieht. Lohnt es sich überhaupt, einen Orchestertanker wie das Gewandhaus in die baltische Peripherie zu manövrieren?
Eine Reise nach Lettland, das gibt er offen zu, wird eine Ausnahme bleiben. Er hat andere Ziele im Blick: „Wichtig sind für uns in Europa die Metropolen London, Paris und Wien. In einer der drei Städte gastieren wir auf jeder Tournee. Und durch die Orchester-Allianz mit Boston, wo Andris Nelsons ebenfalls Chefdirigent ist, spielen wir auch regelmäßig in den USA.“ Südamerika sei einer der nächsten Zielmärkte, China sowieso und nach Japan und Südkorea reist das Orchester ohnehin alle zwei Jahre.
Schulz denkt im großen Stil, denn er weiß: Wer sich in der globalisierten Klassikwelt des 21. Jahrhunderts behaupten will, muss was tun für die eigene Markenpflege. Und die hört bekanntlich an den Stadtgrenzen nicht auf. Allein mit Bürgerstolz und Lokalpatriotismus, Merkmale der Leipziger Orchesterkultur, wäre ein Klangkörper dieser Größenordnung nicht mehr zu managen. „Wir wollen auch außerhalb Leipzigs zeigen, dass wir zu den weltbesten Orchestern gehören. Deswegen gehen wir auf Tournee.“ Für Nelsons Landsleute sind die Gastspiele des Gewandhausorchesters daher eine der selten gewordenen Gelegenheiten, den Maestro live in der Heimat zu erleben.

Wer sich in der globalisierten Klassikwelt behaupten will, muss Markenpflege betreiben.

Der Medienrummel, der sich bei der Ankunft in Riga abspielte, wiederholt sich in kleinerem Maßstab, als es einige Tage und drei Konzerte später vom Flugplatz des Städtchens Liepaja zurück nach Frankfurt geht. Fans scharen sich für Autogramme und Selfies um ihren Weltstar. Am liebsten würden sie ihn dabehalten. Doch Nelsons muss weiter. Nur vier Tage nach Ende der Tournee dirigiert er in Boston.

© Marco Borggreve
© Stev Wackerhagen
© Werner Kopfmüller


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