Eine Minute. Nicht mehr und nicht weniger Zeit bleibt zwischen zwei Teilnehmern in der ersten Runde des Joseph-Joachim-Violinwettbewerbs an Verschnaufpause. Gerade hat eine Geigerin die Bühne verlassen, in ihrem Gesicht ist so etwas wie eine angespannte Erleichterung zu erkennen. Ihr Schritt Richtung Bühnenausgang ist schnell. Der Applaus verstummt. Aber nur kurz, denn schon steht der nächste Auftritt an: Die niederländisch-französische Geigerin Cosima Soulez Larivière betritt das Podium in der Hannoverschen Musikhochschule. Auffällig langsam geht sie zu dem Platz ganz in der Mitte, wischt mit einem Tuch noch einmal über das Griffbrett und dreht sich dann direkt zu den Zuhörern.
Cosima Soulez Larivière
„Es ist der erste Auftritt in dem ganzen Wettbewerb. Ich stelle mich also auch zum allerersten Mal dem Publikum vor. Zugleich begreife ich meinen Gang auf die Bühne schon als einen Teil der Atmosphäre, die ich in den darauf folgenden Minuten kreieren will“, erklärt die Geigerin später. Dieses sich Einlassen auf die dritte Solosonate in C-Dur von Johann Sebastian Bach kann man ihr auch schon in den Minuten vor ihren Schritten auf das Podium ansehen. Da steht Cosima Soulez Larivière ganz still hinter der Bühne. Sie tigert nicht herum, wie es manche andere Künstler gerne tun. „Ich glaube, es ist wichtig so kurz vor dem Spiel ganz bei sich zu sein“, sagt sie. Vielleicht ist diese Vorbereitung unmittelbar vor dem ersten Auftritt in einem der höchstdotierten Violinwettbewerbe der Welt tatsächlich einer der Gründe, warum die Geigerin es schafft, bereits ab dem C, mit dem das Adagio aus der Sonate beginnt, eine Ruhe auszustrahlen, die einen ganz und gar vergessen lässt, dass man gerade noch voller nervöser Spannung für sie gehofft hat, alles möge gut gehen.
Einen Grund, aufgeregt zu sein, hätte Cosima Soulez Larivière allemal. 32 Geiger wurden nach einer strengen Vorauswahl von mehr als hundert Bewerbungen zur ersten Runde nach Hannover eingeladen. Im Saal der Musikhochschule Hannover sitzt nicht nur ein neugieriges Publikum, sondern auch die anspruchsvolle Jury, bestehend aus zwölf der hochkarätigsten Violinprofessoren weltweit. In der ersten von fünf Runden stehen heikle Solo-Werke etwa von Bach auf dem Programm und die Romanze von Joseph Joachim als Pflichtstück. Unter den vergangenen Preisträgern findet man berühmte Namen; viele von ihnen haben mittlerweile ausgebuchte Konzertkalender mit den besten Orchestern oder prägen als Hochschul-Professoren die Geigen-Elite von morgen, wie die Preisträgerin von 1991, Antje Weithaas.
Furchtlos in den Wettkampf
Doch das Prestige des nur alle drei Jahre stattfindenden Wettbewerbs blendet Cosima Soulez Larivière auf der Bühne komplett aus. „Klar, die Juroren sind alles unglaubliche Musiker, aber letztendlich kann ich mir doch nicht die ganze Zeit darüber Gedanken machen, was sie denken. Es ist schon fast bizarr, aber ich war und bin extrem ruhig seit Beginn der Wettbewerbsphase“, sagt die Geigerin. Dies könne auch daran liegen, dass sie nicht irgendwohin reisen musste, überlegt sie. „Ich studiere ja hier an der Hochschule. Den großen Saal, in dem der Wettbewerb stattfindet, kenne ich gut und mag ihn auch sehr“.
Dass Cosima Soulez Larivière sich wohl fühlt in diesem Raum, sieht man ihr an. Furchtlos steht sie da, in voller Konzentration bei ihrer Geige und der Musik. Manchmal schweift ihr Blick aber auch Richtung Publikum, als würde sie prüfen wollen, ob ihre Botschaft ankommt. Doch darüber braucht sie sich keine Sorgen zu machen: Schon mit dem ersten Ton von Bachs Adagio schafft es Cosima Soulez Larivière durch einen starken Bogenkontakt, immer an den Saiten dranbleibend, einen Klang zu produzieren, der einen mit seiner Wärme gütig zu umarmen scheint. Mit viel Zeit für Atempausen vor harmonischen Wendungen gelingt ihr eine sehr plastische, sprechende Interpretation dieses Stücks. Man nimmt ihr ab, dass es wirklich wichtig ist, was sie mit der Musik Bachs sagen will.
Cosima Soulez Larivière
Ob in der darauf folgenden, hochkomplexen Bach-Fuge, einem variationsreichen Solowerk von Paul Hindemith oder der lieblichen Romanze von Joseph Joachim: Immer wieder lässt die Violinistin einen vergessen, dass sie hier als Teilnehmerin eines der größten Wettbewerbe auf der Bühne steht. Wie ist es ihr gelungen, solch eine Leichtigkeit in einem Wettbewerbskonzert entstehen zu lassen? „Ich bin schon auch aufgeregt gewesen. Die Nervosität kommt in Wellen“, sagt Cosima Soulez Larivière nach ihrem Auftritt. Sie sitzt auf einer Bank vor der Hochschule, in der Hand ein Brot, in das sie nun sichtlich hungrig hineinbeißt. Nach einem kurzen Moment des Überlegens erklärt sie: „Heute war es aber eine positive Aufgeregtheit. Ich habe mich einfach sehr darauf gefreut, mein Programm spielen zu dürfen und versucht, in dieser Stimmung zu bleiben.“
Nach der Romanze: viel Applaus und „Bravo“-Rufe aus dem Publikumsraum. „Mein erster Gedanke, als ich von der Bühne kam, war die Frage, ob ich wegen des anhaltenden Klatschens wieder zurückgehen sollte. Es ist ja ein Wettbewerb, kein normales Konzert“, sagt die Geigerin. Die letztliche Unnatürlichkeit der Wettbewerbssituation hat sie für den Bruchteil von wenigen Sekunden also doch eingeholt. „Wettbewerbe sind etwas für Pferde, nicht für Musiker“, das soll der Komponist Hector Berlioz einmal gesagt haben. Angesichts des hohen Stresspegels, den der Vergleich in jedem Wettstreit für Teilnehmende mit sich bringt, hat dieser Spruch durchaus einen hohen Wahrheitsgehalt.
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„Irgendwann heute im Laufe des Tages habe ich gedacht, dass ich vor allem einfach mein Ding machen werde auf der Bühne. Egal, was die Jury denkt. Dieser Wettbewerb erlaubt einem schließlich durch das vielfältige Programm, das man im Rezital beispielsweise komplett selbst wählen darf, große Kreativität zu zeigen. Deshalb wollte ich hier teilnehmen. Es geht um meine Musik und darum, wie ich sie herüberbringen will“, sagt Cosima Soulez Larivière entschlossen. Sich selbst treu bleiben, genau diese Sorgen um die Bewertung der Jury zu vergessen, das ist nicht leicht. Viele verlieren sich in Nervosität oder der Angst, mit ihrer Darstellung nicht zu gefallen.
Braucht es den Wettbewerbsgewinn, um auf internationalen Podien zu bestehen? Viele machen auch anders Karriere. Dennoch kann er eine Chance sein, um auf seine Fähigkeiten aufmerksam zu machen. Cosima Soulez Larivière hat nach dem erfolgreich absolvierten Auftritt nun zweieinhalb Tage bis zum zweiten Teil der ersten Runde. Bleibt auch die Anspannung? „Nein, jetzt habe ich erstmal wieder ein wenig Zeit, den nächsten Schritt ins Auge zu fassen“, meint sie. Es sei ein fast neutrales Gefühl, das sie durch diese Tage begleite. Offenbar gehört die Geigerin wirklich zu den wenigen Teilnehmenden, die das Wettbewerbsgeschehen auf eine sehr natürliche Weise angehen. Wie ihre Vorbereitung aussah? „Ich habe versucht, meinen Tagesablauf gut zu strukturieren, regelmäßig und gesund zu essen und mich auf jede mögliche Zeit, zu der ich nach dem Losverfahren spielen muss, einzustellen“, erzählt sie.
3 Runden geschafft, 2 noch zu spielen
Ihr Konzept scheint aufgegangen: Cosima Soulez Larivière gehört zu den sechs Finalisten, die zu den zwei Finalrunden zugelassen wurden. Gestern (22.10.) musste sie sich wie die anderen fünf als Primaria in einem Streichquintett-Konzert mit dem Kuss Quartett beweisen, am Donnerstag (25.10.) präsentiert sie sich mit dem Violinkonzert von Sibelius im Sendesaal des NDR, begleitet von der NDR Radiophilharmonie unter der Leitung von Andrew Manze. Die Konzerte werden live auf NDR Kultur übertragen und im Video-Livestream gezeigt. Ob Cosima Soulez Larivière sich ihre Gelassenheit auch hier bewahren kann?