Von Anna Vogt, 15.12.2018

Sinn und Suche

Im Advent zieht es sogar Kulturmuffel scharenweise in Konzerte, ob in die Kirche oder in den Konzertsaal. Ein reines Kommerz-Phänomen? Jein, meint Anna Vogt. Denn viele finden in diesen Kathedralen der Kultur zwar kein religiöses Erlebnis mehr – aber ein bisschen zu sich selbst.

Die Wochen rund um Weihnachten sind für Konzertveranstalter das kommerzielle Highlight des Jahres. Weihnachts-„Geschäft“ eben. Auch mit mittelmäßiger künstlerischer Qualität bekommt man hier die Häuser voll – Hauptsache, man verkauft Weihnachts-Stimmung. In Berlin oder München werden in jeder Weihnachtssaison mehrere Dutzende Male Bachs „Weihnachtsoratorium“ und Händels „Messias“ aufgeführt, natürlich unbestreitbar fantastische Werke. Viele zieht es reflexhaft in diese berühmten Weihnachts-Events, sie machen sich gar nicht erst die Mühe, nach kleinen, individuellen Nischen-Konzerten zu suchen. Wenn schon Weihnachtskonzert, dann bitte die volle Dröhnung! Das ist ein bisschen, wie bei Spotify die erstbeste „Weihnachts-Playlist“ abspielen zu lassen oder Alexa per Sprachbefehl mit der Suche nach „Weihnachtsmusik“ zu beauftragen, wie die Amazon-Werbung es derzeit anpreist. Wo bleiben der eigene Geschmack, die Individualität, die Motivation?

Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt regte sich in einem Interview mit dem Münchner Merkur 2010 ziemlich auf über „dieses Auseinanderklaffen von Kommerz und dem Transzendenten. (…) Die tief mit der Tradition des Christentums verbundenen Kunstwerke lösen sich immer mehr von ihrer eigentlichen Basis“. Er meinte, dass die Menschen die religiöse Botschaft etwa der Bachschen Werke gar nicht mehr verstünden. „Man nimmt die unsterbliche Musik Bachs nurmehr als Klang wahr, nicht mehr als Inhalt. Die Sänger könnten ‚blabla‘ dazu singen. Es geht eben um ‚Stimmung‘, sonst gibt’s keine Weihnachten.“

„Man nimmt die unsterbliche Musik Bachs nurmehr als Klang wahr, nicht mehr als Inhalt. Die Sänger könnten ‚blabla‘ dazu singen.“

Nikolaus Harnoncourt

Und es ist wahr: Wofür die meisten Zuhörer in der Adventszeit in Kirche oder Konzertsaal gehen, das ist nicht der geistliche Gehalt der Kompositionen, der Text. Es ist vielmehr eine „Aura“ des Sakralen, des Bedeutsamen, deren Fehlen im täglichen Leben besonders an Weihnachten vermisst wird. Ob diese Hörer „längst durchs Kommerzdenken entleert“ wurden, wie Harnoncourt meinte, bezweifle ich. Nur weil viele in solchen Konzerten keine religiöse Erfahrung suchen, bedeutet es nicht, dass sie hier nicht etwas sehr Wertvolles erleben können. Denn ein „Weihnachtsoratorium“ in andächtiger Atmosphäre verspricht vor allem: zwei Stunden Entschleunigung. Keine WhatsApp-Nachrichten (hoffentlich!), kein Last-Minute-Shopping, keine To-Do-Listen. Im Moment des Konzerts ist man gezwungen, eine Pause zu machen, man ist konfrontiert mit der Musik – und mit sich selbst. Und das kann unglaublich wohltuend sein.

Weihnachten: weder „nur“ ein religiöses Fest noch reiner Kommerz

Wollte man den Nichtgläubigen absprechen, in Weihnachtskonzerte zu gehen und darin einen Sinn zu finden, müsste man Weihnachten für sie eigentlich ganz streichen, wie es viele Weihnachts-Kritiker auch gern tun würden. Aber Weihnachten ist weder „nur“ ein religiöses Fest noch reiner Kommerz. Viele finden gerade in der Mitte zwischen diesen Polen für Advent und Feiertage ihre ganz persönliche Bedeutung. In der Rückbesinnung auf Basics im Leben, die oft zu kurz kommen: Muße-Zeit mit der Familie und Freunden, Gemeinschaftsgefühl, Aufmerksamkeit für sich und andere, ein In-sich-hineinfühlen, Ruhe, Konzentration, Loslassen. Gläubige erleben das vielleicht regelmäßig im Gottesdienst. Aber in unserer säkularisierten Welt scheint sich der Teufelskreis aus Arbeit, digitaler Allzeit-Verfügbarkeit und nicht zuletzt aus dem selbst auferlegten Freizeit-Stress immer schneller zu drehen. Konzerte ermöglichen eine kurze Auszeit davon, nicht nur in der Weihnachtszeit. Dirigent Robin Ticciati, der mit seinem Deutschen Symphonie-Orchester am Wochenende in der Berliner Philharmonie einen gigantisch besetzten „Messias“ macht, sieht die Sache daher auch ganz anders als Harnoncourt, wie man auf der DSO-Website lesen kann: „Wenn man sich heute mit religiösen Themen in der Musik beschäftigt, scheint es mir wichtig, einen gedanklichen Weg jenseits eines bestimmten Bekenntnisses und des Glaubens zu finden, den Horizont zu öffnen und zu weiten für menschliche, spirituelle Dimensionen.“

„Es scheint mir wichtig, den Horizont zu öffnen und zu weiten für menschliche, spirituelle Dimensionen.“

Robin Ticciati

Werden wir dabei dem christlichen Gehalt der Musik gerecht? Vermutlich nicht, und als gläubiger Christ darf man sich, wie Harnoncourt, darüber ärgern. Wird man der Vielfalt der Weihnachtskompositionen gerecht, wenn man immer nur die Erfolgsstücke spielt? Sicher nicht, und mich als Musikwissenschaftlerin sollte das eigentlich nerven. Aber das sind nicht immer die wichtigsten oder einzigen Kriterien. Wenn das Konzert zu einer Art Ersatz-Religion wird und der säkulare Raum zu einem spirituellen, dann ist das etwas, das vielen gut tut – was sollte daran schon falsch sein? Dass es den Konzert-Veranstaltern mit am meisten gut tut: Auch das sei ihnen gegönnt, sie haben es schwer genug. Auch ich kann mich dem Reiz des Rituals nicht entziehen und will das auch gar nicht. Den Ticciati-„Messias“ lasse ich mir morgen zum dritten Advent nicht entgehen. Auf den Geschmack gekommen? Leider längst ausverkauft!

© pixabay


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