Von Anna Vogt, 18.10.2018

Zukunftsmusik

Neue Musik braucht die Welt! Und das Cello ganz besonders. Denn immer nur Elgar, Schumann und Dvořák ist keine Option für die Zukunft. Der Cellist Alban Gerhardt im Gespräch über Glanztaten und Kompositionssünden der Neuen Musik.

Gute Nerven gehören zum Geschäft: Am Tag vor seinem ersten von drei Konzerten mit den Berliner Philharmonikern treffen wir uns zum Gespräch in einem Wilmersdorfer Café. Alban Gerhardt ist tiefenentspannt und zugleich voller Energie. Vielleicht die Mischung, die man braucht als Solist: Feuer, Power, aber auch die nötige Gelassenheit. Es ist der 3. Oktober, und wegen des Feiertags hat er „frei“. Bedeutet auch: einen Tag weniger Proben für die Konzerte mit einem der besten Orchester der Welt – und mit einem Stück, das er in seinem Leben erst ein paar Mal gespielt hat, dem Cellokonzert des australischen Komponisten Brett Dean. Für Alban Gerhardt komponiert, in Australien uraufgeführt, nun also die Europäische Erstaufführung.
Die Distanz des Siezens schafft Alban gleich aus der Welt; er begegnet einem auf Augenhöhe, authentisch, ehrlich. Privates und berufliches Leben verschwimmen bei ihm wie bei wenigen anderen Musikern: Er teilt seine Erlebnisse und Reise-Erfahrungen auf seinem Blog und Instagram-Account und engagiert sich für gesellschaftliche und politische Fragen, zum Beispiel mit dem von ihm mitinitiierten Musiker-Netzwerk „Musicians4UnitedEurope“. Er weiß, dass er zu den besten Cellisten weltweit gehört, das ist seine Lebensrealität. Trotzdem sieht er wenig Starpotenzial in sich. Erstaunlich geerdet dafür, dass er etwa die Hälfte des Jahres als Solist um die Welt jettet. Als Musiker, so sagt er, ist er kein erschaffender Künstler, sondern einfach ein Interpret von Kunstwerken anderer. Und die sind – gerade fürs Cello – leider sehr begrenzt. Tausend Mal das Dvořák- und Elgar-Cellokonzert zu spielen: Das kann nicht die Zukunft für Cellisten sein. Alban Gerhardt will das nicht nur ändern, er tut es längst. Mehrere Werke, u.a. von Unsuk Chin, Johannes Fritsch, Martin Herchenröder oder Tobias PM Schneid, hat er uraufgeführt. Nicht selten ein übeintensiver Kraftakt, mit dem man im Konzert eher lauwarmen Applaus erntet. Was treibt ihn dazu an?

niusic: Zeitgenössische Kunst lieben die Leute, neue Kompositionen scheinen für die meisten abschreckend zu sein. Warum?

Alban Gerhardt: Im Museum kann man viel selektiver sein, da man zu einem Bild hin- und auch wieder weggehen kann; im Konzert sitzend ist man bis zu zwei Stunden der Musik ausgeliefert, ob sie einem nun gefällt oder nicht. Ich glaube, Menschen sind heute visueller, sind es gewohnt, „Hässliches“ oder dem Auge Ungewohntes zu sehen. Hinzu kommt, dass was der Durchschnittshörer verstehen kann und was einige Komponisten schreiben, relativ weit voneinander entfernt sind.

niusic: Morgen spielst Du die Europäische Erstaufführung von Brett Deans Cellokonzert in der Berliner Philharmonie. Wie läufts denn mit den Proben?

Gerhardt: Wir haben für das Konzert insgesamt 2 ½ Stunden Probezeit gehabt plus Generalprobe, was für ein neues Werk nicht unbedingt viel ist, aber es wird richtig gut …

niusic: Ist ja eine tolle Gelegenheit, wenn der Komponist auch da ist und man mit ihm Fragen und Details besprechen kann …

Gerhardt: In der Entstehung des Werkes habe ich Brett völlig freie Hand gelassen, mein Input beschränkte sich darauf, ihn zu so vielen meiner Konzerte wie möglich einzuladen, damit er mich als Cellist so gut wie möglich kennenlernte. Wenn Bach oder Beethoven heute lebten, würde ich mir niemals anmaßen, ihnen irgendeine musikalische Idee vorzuschlagen – wer bin ich denn?! Konkrete Fragen zu ihrer Musik hätte ich auch nicht, viel eher würde ich versuchen, sie irgendwie dazu zu bringen, am Klavier zu improvisieren, das würde ich wahnsinnig gerne erleben. Ich sehe es als meine Interpretenpflicht, aufkommende Fragen oder Probleme selbst zu lösen, egal ob der Komponist noch lebt oder nicht, denn eigentlich erklärt sich, insbesondere bei großen Komponisten, die Musik aus dem Notentext heraus – wenn nicht, ist meine eigene Kreativität gefragt. Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich einen Komponisten etwas frage, gibt er eine Antwort, auch wenn er sich unsicher ist, so dass ich es bisher immer so gehalten habe, im Vorfeld keine Fragen zu stellen, während der Proben aber sehr hungrig auf das Feedback des Komponisten zu sein.

„Ich gehe jedes Werk so an, als wäre ich der erste Interpret, auch wenn es schon tausendmal gespielt wurde.“

Alban Gerhardt

niusic: Fühlst Du Dich als erster Interpret eines Werkes besonders unter Druck, die Vorstellungen des Komponisten zu erfüllen?

Gerhardt: An den Druck habe ich mich gewöhnt, da ich jedes Werk, das ich spiele, so angehe, als wäre ich der erste Interpret, auch wenn es schon tausendmal gespielt wurde. Aufnahmen, selbst vom Uraufführungs-Interpret, interessieren mich nicht wirklich, da ich selber erfahren habe, dass nach einer Uraufführung der Komponist sehr glücklich mit der Aufführung war, aber zugeben musste, dass er sich etwas ganz anderes vorgestellt hatte. Und das ist ja das Wunderbare an der Musik, dass es verschiedene Deutungsmöglichkeiten gibt. Orientieren wir uns aber allzu sehr an dem, was die Interpreten vor uns gespielt haben, dann wird das ganze wie „stille Post“; am Ende kommt völliger Unsinn dabei heraus, was dann selbst dem nettesten Komponisten nicht mehr gefallen würde.

niusic: Also bist Du als Uraufführungs-Interpret eigentlich unwichtig?

Gerhardt: Als Vorlage für den nächsten Interpreten bin ich unwichtig, aber um das Werk bekannt zu machen, bin ich nicht unwichtig; Je überzeugender wir die ersten Aufführungen gestalten, desto größer die Chance, dass das Werk auch überlebt, und bei den Konzerten, die es ins Standardrepertoire geschafft haben, wie zum Beispiel die von Britten, Prokofjew, Schostakowitsch und Dutilleux, hat Rostropowitsch als Inspirator nicht nur großartige Interpretationen hingelegt, sondern er hat seine Starpower eingesetzt, diese Konzerte einem großen Publikum bekannt zu machen, indem er sie überall gespielt hat, obwohl es viel leichter gewesen wäre, nur Dvořák, Saint-Saëns und Rokoko-Variationen zu geben, wo die Beifallsstürme des Publikum garantiert sind.

niusic: In der Vorbereitung kosten solche Klassiker ja auch weniger Zeit, oder?

Gerhardt: Absolut, oft gespielte Werke wie das Dvořák-Konzert könnte ich heute Abend spielen, zwei bis drei Stunden des „Wieder-in-Erinnerung-Rufens“ wären ausreichend, wenn ich in Form bin; bei seltener gespielten und neueren Konzerte wie Dutilleux, Unsuk Chin oder Schnittke würde das schwierig werden, ne Woche Vorlauf ist da schon angebracht …



niusic: Wie kann man denn ein neues Konzert wie das von Dean pushen?

Gerhardt: Abgesehen davon, dass ich so viele Dirigenten, Orchester und andere Cellosolisten davon zu überzeugen versuche, das Dean-Konzert ins Programm aufzunehmen, ist es auch sehr wichtig, von dem Orchesterpart einen Klavierauszug zu erstellen. Von den meisten zeitgenössischen Cellokonzerten in den letzten Jahrzehnten gibt es keinen, weil es sich für den Verlag angeblich nicht lohnt, einen zu erstellen, ein Teufelskreis: Denn wie können auch Studenten das Werk erlernen und für Prüfungen oder Vortragsabende spielen?

niusic: Haben die meisten Cellisten denn überhaupt Lust drauf, neue Werke zu lernen? Ist ja nicht so einfach …

Gerhardt: Klar, bequemer, einfacher und sicherer ist es für jeden Interpreten, Altbekanntes zum Besten zu geben, nur dürfen wir uns dann nicht beschweren, dass immer die gleichen Stücke gespielt werden oder das Cellorepertoire zu klein sei. Ich darf mir als Cellist nicht zu schade sein, so viel verschiedene Werke wie möglich parat zu haben, auch wenn ich dafür ab und zu durch die Hölle gehen muss. Neue Werke müssen natürlich auch gut gespielt werden; und nicht alle neuen Stücke sind gut, manche sind auch einfach nur schwer …

niusic: Zum Beispiel?

Gerhardt: Heinz Holligers „Trema“, gewiss ein hervorragendes Stück, doch ich fand es vor fast 25 Jahren unfassbar schwer und hätte es fast abgesagt. Auf jedem Quadratzentimeter der Noten standen irgendwelche Spielanweisungen, die ich nicht alle in mich aufnehmen konnte. Ein Loch in den Noten zeugt davon, wie ich vor Wut mit dem Bogen auf dieselben eingeschlagen habe. Drei Tage vor dem Konzert erinnerte ich mich jedoch an Cristóbal Halffter, dessen Stück wir 1985 im Bundesjungendorchester spielen mussten. Als wir ihm damals sagten, das sei alles viel zu schwer, meinte er nur: „Ich weiß, aber ich will die Verzweiflung in euren Augen sehen“. Dies vor Augen, so muss ich zu meiner Schmach gestehen, wurde es das einzige Mal in meinem Leben, dass ich diese Verzweiflung im Konzert vortäuschte, ohne wirklich genau das zu spielen, was in den Noten stand.

„Meine Zeit ist mir zu schade, ein Stück zu erlernen, was außer mir kaum einer würde spielen können.“

Alban Gerhardt

niusic: Machen Komponisten es den Musikern heute also extra schwer?

Gerhardt: Gewiss nicht aus Bosheit, sondern viel eher aus der Angst heraus, den Interpreten technisch zu unterfordern – so gestand mir auf alle Fälle ein Komponist vor einiger Zeit. Und einige sind vielleicht sogar stolz darauf, wenn ihr Stück als „unspielbar“ oder „zum schwersten aller Zeiten“ erklärt wird. Mittlerweile bin ich alt genug, um mir meiner begrenzten Lebenszeit bewusst zu sein, weshalb mir meine Zeit zu schade ist, ein Stück zu erlernen, was außer mir kaum einer würde spielen können. Für mich ist das keine Auszeichnung, sondern stolz wäre ich, wenn in ein paar Jahren mehrere Aufnahmen des Dean-Konzerts von verschiedenen Cellisten existieren und es häufig und gerne gehört und gespielt wird. Dann habe ich ein Prozent davon geschafft, was Rostropowitsch geschafft hat. Der hat ungefähr 200 Stücke uraufgeführt, einfach unermüdlich!

niusic: Gibt es noch was, was Dich an Neuer Musik nervt?

Gerhardt: Wenn Komponisten scheinbar beliebig mit Spielanweisungen wie sul tasto (mit dem Bogen auf dem Griffbrett zu streichen) oder sul ponticello (am Steg zu streichen) umgehen, was mir manchmal schon so vorgekommen ist, als würden sie mithilfe dieser recht simplen Klangeffekte über die inhaltliche Leere ihrer Kompositionen hinwegtäuschen wollen. Wenn ich selbst nach längerer Analyse hinter diesen Anweisungen gar keinen Sinn erkennen kann, sehe ich dies als reine Schikane an, und da schalte ich automatisch auf Durchzug. Bei Brett Dean dagegen sehe ich keinen einzigen billigen Effekt, alles macht Sinn und ist schlüssig.

Brett Deans Cello Concerto: explosive Mischung

niusic: Sondern? Wie würdest Du Brett Deans Konzert beschreiben?

Gerhardt: Er arbeitet mit kleinen Motiven, die sich in veränderter Form durch das Stück hindurchziehen, und er wagt es sogar, mit einem kleinen Thema zu experimentieren, welches man beinahe mitsingen kann. Das gibt dem Publikum die Chance, sich an etwas festzuhalten, es gibt diesen gewissen Wiedererkennungswert; Das Publikum hat so eine bessere Chance, das Stück schon beim ersten Hören zu verstehen. Einige gestrenge Kritiker finden solche Werke dann oft als nicht modern genug – je verquerer etwas ist, umso besser muss es sein. Doch Bretts Musik ist weder populistisch, noch ist sie gefällig, anbiedernd oder simpel. Sie ist neu und herausfordernd, aber verständlich.

niusic: Spielst Du das Dean-Konzert morgen eigentlich auswendig?

Gerhardt: Ja, ich habe bereits die Uraufführung in Sydney ohne Noten bestritten, aus dem einfachen Grunde, dass wenn ich mich zwinge, ein Stück auswendig zu können, ich einfach 50 Prozent mehr daran übe – und das hat noch keinem Werk geschadet. Auch habe ich die Erfahrung beim Prozess des Auswendiglernens gemacht, dass ich einen viel besseren Überblick und größeres Verständnis von dem Stück bekomme, es scheint sogar immer kürzer zu werden, je mehr es in meinen Kopf und Herz Eingang findet. Darüber hinaus kann ich viel besser auf den Dirigenten und das Orchester reagieren, wenn ich nicht mit dem Kopf in den Noten stecke. Natürlich kann ich bei einem Blackout auch mal in Panik geraten, aber das Risiko gehe ich gerne ein, zumal oft die Orchestermusiker, wenn sie sehen, dass sich der Solist da derart reingekniet hat, sich selber noch etwas mehr Mühe geben, dem Werk gerecht zu werden. Natürlich ist das sehr persönlich, aber ich spiele mit Noten nur halb so frei und doppelt so schlecht (lacht).

© Kaupo Kikkas
© Foto aus der Berliner Philharmonie: Monika Rittershaus


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