Von Sebastian Herold, 06.09.2018

Initialzündungen

Musikalische Vorlieben verändern sich. Doch manches überdauert die Zeit, bleibt konstant großartig. Diese Playlist versammelt ein paar ohrenöffnende Musikstücke, zu denen unser Autor Sebastian Herold immer wieder gern zurückkehrt.

Es gibt diese Musikstücke, die neue Welten öffnen. Jeder Musikfreund kennt sie: ein paar entscheidende Werke, ob Popsong oder Sonatensatz, die schon beim ersten Hören eine solche Wucht entfalteten, dass sie den eigenen Musikgeschmack um neue Facetten erweiterten oder sogar auf ganz neue Bahnen lenkten. Und dieser Musikgeschmack ist schon eine seltsame Sache. Er wächst und gedeiht mit der Zeit, mit fortschreitender Entwicklung und Erfahrung. Und verändert sich dabei schleichend: Neue Vorlieben kommen hinzu, andere rutschen in den Hintergrund. Beim erneuten Blick auf die Stücke, die früher wie Initialzündungen gewirkt haben, lässt sich daher die Freude, die man an bestimmter Musik hatte, nicht immer wiederherstellen. Aber es zeigen sich auch Konstanten.

Die Filmmusik von John Williams ist für mich so eine Konstante. Es gibt wohl keinen Komponisten, dessen Musik mich schon so lange begleitet und begeistert. Meine Begeisterung hat sich im Laufe der Zeit lediglich etwas verschoben. Mit acht Jahren schaute ich im Jahr 2001 den ersten „Harry Potter“-Film und war von den Klängen seiner Musik völlig hingerissen, ohne das damals näher definieren zu können.

Heute faszinieren mich Williams’ Kompositionen unter anderem auch, weil ich durch mein gewachsenes Hör-Repertoire ihre stilistischen Einflüsse nun genauer einordnen und nachvollziehen kann. Die sind mal mehr, mal weniger offensichtlich, sie reichen von der romantischen Sinfonik über Aaron Copland oder Igor Strawinski hin zu avantgardistischen Strömungen und zum Jazz. Williams schöpft virtuos und flexibel aus diesem Fundus, kombiniert verschiedene Stile dem filmischen Anlass entsprechend und hat doch in dieser Vielfalt seine ganz eigene stilistische Stimme ausgeprägt. Wie etwa in einem wunderbaren Stück aus Steven Spielbergs „The Terminal“, in dem sich Williams’ Nähe zum Jazz mit seinem Gespür für Melodiebildung verbindet (insbesondere ab 0:56!); oder in der rasanten Verfolgungsmusik, die mich mit ihrer Mischung aus treibenden Motiven und freitonal-‚chaotischen‘ Passagen problemlos auch ohne das Filmbild aus „Star Wars: Episode II“ fesselt.

Eine ähnlich anhaltende Liebe verbindet mich mit der Musik von Johann Sebastian Bach. Welches Stück für meine Begeisterung ausschlaggebend war, kann ich zwar nicht mehr so genau sagen. Aber den dritten Satz aus der Oboen-Transkription des Cembalokonzerts BWV 1053, den ich gegen Ende meiner Schulzeit wie so viele andere Bach-Werke rauf- und runterhören konnte, bewundere ich heute wie damals für die sprunghafte Lebensfreude, die er für mich ausstrahlt.

Drei Bläser-Akkorde wie die „Simpsons“-Titelmusik, dann der Streichersound der Romantik.

Während ich Bach vor allem über Aufnahmen für mich entdeckte, erlebte ich Johannes Brahms’ dritte Sinfonie zum ersten Mal im Konzert. Ohne Vorbereitung und ohne zu wissen, was mich erwartet, saß ich im Leipziger Gewandhaus und war allein vom Anfang des ersten Satzes wie weggeblasen: Kurz denke ich noch, dass man zu den anfänglichen drei Bläser-Akkorden auch den Beginn der „Simpsons“-Titelmusik singen könnte – und gleich darauf zieht mich das zupackende Streicherthema förmlich hinein in die Welt der romantischen Sinfonik.

Anton Bruckners Sinfonien waren mir zugegebenermaßen beim ersten, oberflächlichen Hineinhören früher zu wuchtig, auch scheinbar zu wenig abwechslungsreich – bis ich eher zufällig auf das Scherzo aus seiner neunten Sinfonie stieß. Dieser pochende Rhythmus am Anfang, diese teils bizarr-süßen Klangverbindungen im Trio-Mittelteil: Der Satz packte mich ebenso wie die gesamte Sinfonie, und nach und nach bemerkte ich, dass auch seine anderen Werke keineswegs so gleichförmig sind, wie ich bei meiner ersten Begegnung mit dieser Musik meinte.

Wachsen mit zunehmendem Hör-Repertoire Scheuklappen?

Manchmal denke ich, dass ich früher viel unbefangener, viel freier und auch häufiger bahnbrechende musikalische Entdeckungen machen konnte als heute (Anm. So sah das auch Carsten Hinrichs neulich in seiner Kolumne ). Lässt man angesichts des Überangebots an ständig verfügbarer Musik weniger an sich heran? Wachsen einem mit zunehmender Hör-Erfahrung Scheuklappen? Oder ist man schlicht und einfach schwerer für Neues zu begeistern – gerade, wenn man sich schon in Studium oder Beruf viel mit Musik beschäftigt und mit der Zeit denkt, einen guten Überblick zu haben?

Zumindest bei mir ist Letzteres wohl kaum der Fall. Denn zum Glück kommt immer wieder doch ein neues, großartiges Stück dazu, das eine neue Leidenschaft auslöst. Zum Beispiel für den Bossa Nova, dessen Mitbegründer Antônio Carlos Jobim hier in „The Girl From Ipanema“ eine kongeniale Verbindung mit Frank Sinatra eingeht. Neben Sinatras Stimme lohnt es sich hier auch besonders, auf die exquisit ausbalancierte Instrumentalbegleitung zu achten: kein Ton zu viel, keiner zu wenig.

© Rocio Rodriguez/Pixabay


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