Von Sebastian Herold, 25.09.2018

Im Schatten des Verbrechens

Carlo Gesualdo war Komponist – und Mörder. Was macht dieses Wissen mit uns? Und mögen wir seine Musik trotzdem oder gerade deswegen?

Es ist eine blutige Nacht im Oktober 1590: Carlo Gesualdo sagt seiner Ehefrau, dass er zur Jagd geht. Und stellt ihr damit eine Falle: Denn während seine Frau Maria d’Avalos sich später mit ihrem Liebhaber vergnügt, kehren Gesualdo und ein paar Verbündete zurück. Sie erwischen die beiden ‚in flagranti‘ und ermorden sie im Anschluss brutal. Ein Untersuchungsbericht gibt detailliert Auskunft über die zahlreichen Hieb-, Stich- und Schussverletzungen der Leichen.



Kriminalität und Musik: Das sind Sphären, die wir nur ungern zusammenbringen – abseits von Musikwerken wie Opern, in denen Verbrechen thematisiert werden. Unser Ideal einer friedlichen, verbindenden Kommunikation durch Musik scheint unvereinbar mit gewalttätigen Delikten gegen das Leben anderer Menschen. Doch gibt und gab es wie unter allen Menschen auch unter Komponisten Verbrecher: Das Spektrum reicht vom eher harmlosen Vertragsbruch, der Johann Sebastian Bach vier Wochen im Gefängnis einbrachte, bis hin zu brutalen Gewalttaten wie bei Gesualdo.

Mord ohne gerichtliche Konsequenzen

Zu dessen Zeit, Ende des 16. Jahrhunderts, wurden Menschen oft nicht als grundsätzlich gleichwertig angesehen: Denn wegen Gesualdos adeliger Stellung als Prinz von Venosa galt die Tat des 24-Jährigen damals als Ehrenmord, legitimiert durch die eindeutige Schuld seiner Gattin. Eine gerichtliche Verurteilung musste er also nicht fürchten. Dennoch floh er von Neapel nach Gesualdo, eventuell um der Rache der Familie seiner Frau zu entkommen. In seinen späteren Jahren zog er sich in seine Residenz zurück und schien die Tat zu bereuen: Angeblich ließ er sich täglich zur Buße auspeitschen. Er starb 1613.

Juristisch gesehen ist Mord für uns Mord, egal zu welcher Zeit er geschah.

Was macht es heute mit uns, wenn wir von einem solchen Verbrechen wissen? Dass die Morde nach damaligem Recht nicht geahndet wurden, dürfte für die heutige Wahrnehmung an sich keine Rolle spielen. Unser Gerechtigkeitsempfinden ist, zumindest was Grundsätzliches wie das Töten anderer Menschen angeht, gefestigt. Juristisch gesehen ist Mord ist für uns Mord, egal zu welcher Zeit er geschah.



Abseits juristischer Definitionen scheint für unsere individuelle Sicht jedoch gerade der Aspekt der Zeit entscheidend zu sein. Was lange her ist, betrifft uns tendenziell weniger direkt als jüngere Ereignisse. Stellen wir uns mal die praktische Frage: Wie würden wir als Gesellschaft, als Konzertbesucher reagieren, wenn ein bekannter Komponist der heutigen Zeit einen Mord beginge? Ich könnte mir gut vorstellen, dass seine Werke kollektiv boykottiert würden: Sei es auf Druck des Publikums oder als Statement seitens der Veranstalter – wie es in verschiedenen Abstufungen auch in der #MeToo-Debatte etwa um den Dirigenten James Levine der Fall war.

Ein wohliger Schauer beim Musikhören

Umgekehrt muss mit Blick auf Carlo Gesualdo die bittere, aber auch irgendwie banale Wahrheit wohl lauten: Wir hören heute genüsslich seine Musik, weil wir eben keinen Bezug zu diesem Mann oder zu seinen Opfern haben. Wir nehmen seine Morde hin, ohne daraus Konsequenzen für die Wahrnehmung seiner Musik zu ziehen, weil sie lange zurückliegen und uns nicht mehr betreffen.

Allerdings: Ganz ohne Konsequenzen rezipieren wir seine Musik nun auch wieder nicht. Verleiht nicht das Wissen um seine Taten der Musik einen morbid-faszinierenden Beigeschmack? Zumindest stricken wir uns gerne unsere Mythen um die Musik herum. Wir genießen den leichten Schauer, der uns beim Hören von Musik wie beispielsweise den Stücken des sechsten Madrigalbuchs mit dem Hintergrundwissen solcher Gräueltaten überkommt. Und denken bei den modern anmutenden harmonischen Verbindungen, der exzessiven Chromatik und den bittersüßen Dissonanzen mit wohligem Grusel zurück an die lange vergangene, blutige Nacht.



© pixabay


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